Prosa
Kleine Vergleiche
1986
365/eins
Gezeiten
Abschöpfung
Die Gelegenheit
Spielplatz
Besessen
Phasenweise
All In
Tod im Kino
Tageweise Tier
Im Stadtbild
Berühmtheit
Übertretung
Unter Dingen
Verkündigung
Der Mittlere Held an seinen freien Tagen
Ellipse
Essig
Kleine
Vergleiche
I
Vielleicht
ist es erlaubt, kleine Vergleiche anzustellen.
Die
Absicht war die gleiche, nur die Mitspieler waren andere. Es ging
darum, einen Abend zu verleben. Es ging um alles und um nichts.
Sicher,
es wurden ganz verschiedene Dinge verhandelt, doch waren
Ähnlichkeiten beim Personal angelegt: Ich spielte mit und die
Vertreter der Ordnungsmacht, die Polizei, dein Freund und Helfer und
außerdem geht es hier um Regelverletzung. Die ist immer in uns
angelegt, Rebellion, wo auch immer, jedem anders, jedem gleich.
II
Mit
dem Herrn F., der ein Kollege war, dem ich genaugenommen keinen
Gefallen schuldete, war ich verabredet, um ihm zu Diensten zu sein
beim Herrichten einer abgelebten Wohnung in einem Kaff, das wir einst
gemeinsam beackerten. Nur ihm sei die Ausdrucksweise zugeeignet,
bemüht wie er war, seinem Anspruch freigeistiger Lebemann zu
sein, zu genügen. Innerhalb der Maßstäbe, die er sich
sich setzen wollte, huldigte er der Verschwendung mit Genuss, wie er
ihn verstand. Mit Großzügigkeit sich und mir und der
gemeinsamen Feier gegenüber lud er ein, mir den Dienst angenehm
vergelten wollend, sich die Fron des sinnfreien Farbauftrages an
Tapetenbahnen zu verzuckern, den Schmerz, sei er eingebildet oder
nicht, durch Kühlung am Rausche zu lindern.
Wir
halfen uns also ein: Kaffee, Haschisch, Wein, Grappa, Käse an
Tomaten und Oliven, Tabak. Herr F. ertelefonierte sich zudem einen
dienstbaren Geist herbei, der als Wirt in jenem Kaff auch die dem
Kokain Zugeneigten bediente. Dieser gab sich währenddessen den
Anstrich des familientreuen Versorgers, während er als letzter
Händler vor dem Konsumenten F. seinen dicken Reibach machte, zur
Befriedigung seiner Frau, die fest glaubte, das Speiselokal gehe so
gut. Nun, da der Kollege von jenem eingeladen auch der Nase
Rauschmittel zugegeben hatte, mochte er uns nach Hause kutschierend
der Unart der nächtlichen Verkehrsregelung durch Ampelzeichen an
leeren Straßen nicht recht nachfolgen. Er überfuhr
umsichtig und seinem Recht durch Unverständnis dem Regelwerk
gegenüber verbal Ausdruck gebend jede rot beleuchtete Kreuzung
bis zu jener letzten, die er mit Grandezza siegesgewiss nahm, nicht
bemerkend, oder zu spät, dass das Fahrzeug, welches gegenüber
an uns vorbeifuhr und grün haben musste, eine Wanne, eine
Streife auf Nachtschicht war, folgerichtig wendend und uns
hinterherfahrend.
Herr
F.: „Scheiße.“ Dies mehrmals.
Ich:
„Ruhig. Einfach einparken.“ Ebenfalls mich wiederholend
und den eingekauften Sekt unter dem Sitz versteckend.
Herr
F. stieg aus, die Herren Ordnungshüter ebenso, eine Unterhaltung
entsponn sich mit der handelsüblichen Frage:
„ Sie
wissen, das Sie eine rote Ampel überfahren haben?“ Ich sah mich um. Nein, der Mast stand noch, er hatte bildlich gesprochen,
gut.
Herr F., rotäugig, obwohl er sich kaschierende Tropfen eingeträufelt
hatte:
„Das
war doch höchstens... gelb. Naja, dunkelgelb zugegebenermaßen.“
So nahm es seinen Lauf, der stiernackige Beamte verneinte, der lange
dünne assistierte weiterführend, welche Handhabe sie
hätten, um garantiert nachweisen zu können, dass unter
keinen Umständen..., wenn er wollte, er errechnen lassen könne,
dass, wenn er grün..., woraufhin ich einlenkte, er müsse
uns ja nicht erst überzeugen und derweil dem Kofferraum
Instrumente zur Renovierung, zum Musizieren, sowie Schlafutensil
entnahm. Der Stiernackige war noch nicht ganz erweicht und fragte
nach Alkoholeinnahme. Natürlich beschönigend wir, dass ein
zwei Glas Wein vor einer Stunde, einer halben vielleicht, zum
Essen... Während jener also beschloss, den Herrn F. zum Test des
Gehaltes im Blut pusten zu lassen, ging dieser noch
Energieüberschüssige einmal mit der Handlampe an den Wagen
heran, der natürlich von außen gebrauchsüblich
wirkte. Herr F. war beunruhigt, soviel konnte ich deutlich spüren,
obwohl wir eine atmosphärische Gelassenheit wacker verteidigten.
Der
Test musste wiederholt werden.
Herr
F. atmete und ein kleines elektronisches Geräusch gab durch
Piepen bekannt, dass nun ein Ergebnis vorläge. Die nächste
Konsequenz lag Herrn F. bleiern im Gemüt, wir hatten unser
bestes gegeben.
„ Null
Komma drei vier.“
Herr
F. war erleichtert, cool, sofort höflich und erhielt noch die
Ermahnung, zukünftig die Lichtzeichen zu achten.
Wir
konnten uns zurückhalten, den Uniformierten zur Abfahrt zu
winken. Dankbar konsumierten wir in der Wohnung angekommen weiter –
Genussmittel; im Blute nachgewiesen allesamt Grund genug, Herrn F.
reichlich Ungemach zu bereiten.
III
Mit
H., einem langjährigen Freund war ich unterwegs, Musik zu
genießen, zu trinken und zu schauen, mit diesem im Gespräch
zu lachen und dort die Frauen so gut es eben geht nicht zu bemerken,
wegen denen man sich überhaupt auf den Straßen
herumdrückte. Der Abend gelang gut, die Musik war anständig
und zuletzt war das Bier billig und das Gespräch geneigt. Um
drei am morgen trennten wir uns, dem Geschäftsschluss uns
beugend, das Fahrrad in verschiedene Richtung schwingend.
Zu
Hause angekommen aß ich sofort die geschenkt erhaltenen
Backwaren vom Spätkauf und freute mich ob der gelungenen
Unternehmung, als das Mobiltelefon noch mal klingelte und H. sich
meldete:
„ 25
Euro wegen Fahren ohne Licht.“ Wir ereiferten uns, ungefasst.
Ich fragte noch:
„ Hast
Du ihnen gesagt, dass du kein Geld hast?“ Das hatte er und
lachte ergeben und ungläubig, dies wäre nun sein
Geburtstagsgeschenk. Wir sprachen noch, als er meldete, dort wären
sie wieder und ich sagte gleich:
„ Steck
das Telefon weg.“ Als er wieder anrief:
„ Noch
mal 20 wegen telefonieren auf dem Fahrrad“ und fügte
hinzu, sie wären leider ungnädig, verständnislos und
zuletzt noch larmoyant gewesen; hätten ihm gesagt, sie hätten
nun keine Lust mehr, den Rest der Nacht mit Radfahrern zu sprechen
und er möge doch sein Rad nun schieben. Es wunderte uns nicht
mehr, verdross nur noch in gedämpften Maßen, waren dies
doch auch nicht die ersten Erfahrungen mit erfolgreichen
Gesetzeshütern und dem bürokratischen Zahlungssystem für
unbotmäßige Bürger. Wir wollten uns verabschieden,
zuletzt, als H. meldete:
„ Da
kommen sie noch mal. Die sind echt wegen 'nem Radfahrer im Kreis
rumgefahren. Gerade am Anfang der Schicht. Ich glaub' an gar nichts
mehr.“, sagte er noch, bevor er wieder aufstieg und nach Haus
fuhr.
IV
Der Vergleich will erlaubt sein, unter uns Kriminellen, die ans Gängelband gezügelt gehören.
1986
Vor
mir eine Wiese. Lang wie breit, etwa 150 Meter, dahinter Bäume.
Links die Schlafbaracken. Ich bin erst zehn, aber das ist etwas
Besonderes, das weiß ich, eine Wende in meinem Leben. Ab jetzt
wird nichts mehr sein, wie es einmal war. Die Wiese ist saftig grün,
so wie eine Wiese im April nur grün sein kann, wenn es immer
viel regnet. Das ist jetzt nicht mehr gut, dass es hier immer so viel
regnet. Sie sagen uns nicht viel, wir sollen nicht rausgehen und
nicht so viel wissen, aber wir sind ja nicht blöd, denke ich
heute, ich war ja nicht so blöd, dass ich nicht gemerkt habe,
dass es etwas besonders Schlimmes ist. Alle haben Angst davor und man
kann es nicht sehen. Strahlen. Diesen Ort, dessen Name uns fremd und
bedrohlich klang, werden wir nie vergessen. Abends erzähle ich
den andern das Märchen vom standhaften Zinnsoldaten, damit wir
einschlafen konnten, denn in den Gesprächen ist wenig Leben bei
uns. In unserer Baracke schlafen Christopher mit den dicken
Brillengläsern und der wilde Andreas, der heißt wie ich
und Nils und Thorsten, die nicht so aufregend sind. Da ist etwas
passiert und am nächsten Tag sitzen wir ganz lange nachmittags
bei hässlichem Tee und langweiligen Keksen im großen
orangenen und weißen Saal mit dem kalten Licht und es ist
unbeschreiblich langweilig und heute weiß ich, dass sie nicht
wussten, was sie mit uns machen sollen, jetzt, da Tschernobyl während
unserer Klassenfahrt passiert ist.
Ich
vergesse nicht, wie ich vor der Wiese stehe, die so groß und
grün ist und Tschernobyl macht, dass sie so einsam vor mir
liegt. Heute spielen wir nicht. Das ist zwanzig Jahre her. Es ist
dann doch einfach so weitergegangen und verändert sich nur
langsam, auch wenn es einem schnell vorkommen kann, bei der ganzen
Technik die uns heute umgibt. Wenn man überlegt, wie alles
aussah 1986, die Autos und die Stehlampen, die Bravoposter und die
Wohnzimmer und die Einfamilienhäuser, in denen die Leute für
kurze Zeit große Angst hatten, vor den Strahlen, die man nicht
sehen kann, und wie sich alle schnell beruhigt haben und
weitergemacht. Und warum stehe ich immer noch allein vor der Wiese
und sehe sie an wie ein Abschied.
365/eins
Dynamische
Systeme erzeugen fraktale Gebilde, so genannte seltsame Attraktoren
Für
jedes Ding gibt es ein Maß. Also auch Grenzen, innerhalb
welcher es festgestellt werden kann - durch die Feinheit der
Wahrnehmung. Man kann, man muss manches Ding dafür verstärken,
lauter werden lassen, größer. In einem Elektronenmikroskop
beispielsweise, oder durch ein Mikrofon.
Nikola
Tesla hat ein Maß gefunden für die Flussdichte eines
elektromagnetischen Impulses, der nötig ist, um die Dinge von
einander unterscheidbar schwingen zu lassen, auf diese Weise Bilder
von ihnen zu machen und sehen zu können, was normalerweise vor
unserem Blick verborgen bliebe. Aber was ist schon normal.
Wahrnehmung?
Jeder
Mensch empfindet eine Grenze, bis zu der er Dinge erträglich
findet. Erträglich im Sinne von ertragen können, nicht zu
verwechseln mit einträglich, also Ertrag einbringend. Obwohl wir
wirken können, als könnten wir beides nur sehr willkürlich
in unserem Wesen und durch unser Wesen unterscheiden: wir können
Dinge ertragen, die in Maßen anrühren, stinken, laut sind,
enervierend, scharf, salzig oder süß schmecken.
Die
Fähigkeit Dummheit ertragen zu können ist bei vielen
ausgeprägter, als diejenige, Schmerz gut aushalten, dulden oder
ignorieren zu können, präziser: Schmerz, der sich
körperlich äußert, beeinflusst unser Wesen
nachhaltiger und direkter im Ausdruck und Gefühl unseres Wesens,
als jeder andere Sinneseindruck.
Wie
um dies zu beweisen, brach sich Karmelin Knirp den linken Fuß
im Gelenk, als er vorgab, dass alles nicht so schlimm werden würde,
wie befürchtet. Er tat so wider besseres Wissen, und eben das
sollte ihm nichts nützen, denn meistens kommt es dann noch
schlimmer.
Wir
wollen auch nicht vordergründig die These damit stützen,
dass wir argumentieren, eben spürbar war es für ihn nun, da
die Umwelt ihm Hürden und Stolpersteine entgegen hielt und warf,
dass Dinge, die er sonst in aller Souveränität überwand,
bezwang und benutzte, sich nun als sperrige, verschlossene Güter
zeigten, die sich nur unter großem Aufwand und dem Gebot aller
gegebenen Geschicklichkeit dienstbar gaben. Es wäre also zu
einfach, zu behaupten, eben dadurch, dass ihm seine Wohnung zum
Hindernisparcours, der nicht behindertengerecht eingerichtet war
wurde, sei Karmelin Knirp sich seiner Behinderung bewusst und darauf
zurückgeworfen worden, wurde dadurch seiner Körperlichkeit
in einem Maße gewahr, die er für unerträglich hielt.
Vielmehr
möchten wir hinterlistiger darauf hindeuten, wie mit einem gut
gesalzenen Finger auf seine Wunde weisend, dass er vielmehr seine
Dummheit spürte, die sich Raum schaffte, indem sie den Raum
seiner Wahrnehmung auf den Schmerz verengte; die Dummheit fand ihren
Ausdruck im nicht Ursächlichen (schließlich dachte er
nicht mit den Füßen), sie nahm sich ihren Ausgleich im Maß
des Schmerzes, für ihn spürbar als Veränderung der
Bedeutung des Fußes (f) zum Rest seines Körpers und dessen
Funktionen (k).
xD
= (∆f/k)/(f/k)
Das
hieße in diesem Fall: so sehr mehr (∆f) als sonst er
gerade nur Fuß war, so groß (x) müsste seine
Dummheit (D) sein, sie würde schwingen in der Unfähigkeit,
etwas anderes zu sein. Mit seinen Gehilfen, bzw. Gehhilfen würde
er die Frequenz feststellen können, - sie gaben die Taktung an,
anhand der x zu bestimmen war, unregelmäßig wie alles
Leben, das Heben und Senken des Meeres, wie Flammen an Holz, wie
Wolkenformation. Wenn die Größe der Dummheit aber nicht
festgeschrieben, sondern fortschreitend nur immer sich selbst ähnlich
wäre, würde sie kleiner werden, je ungefährer man sie
betrachtete. Denn je genauer man das Objekt betrachtete, desto mehr
würde man die vielen verkleinerten Kopien seiner selbst
wahrnehmen können, die Oberfläche würde sich bis ins
Unendliche ausdehnen – nur durch Beobachtung. Es war wie mit
der Ludolphschen Zahl π: es käme darauf an, ob sich nicht
doch ein erkennbares Muster ergäbe, je länger man sie
betrachtete. Entweder war jede Entscheidung zufällig und die
Konsequenz chaotisch, oder man war entschieden zu dumm. Besser war,
man sah nicht zu genau hin.
Das
war des Knirps Trost; wie die Aussicht, dass Heilung für seinen
Fuß möglich war, der Schmerz also vorübergehen würde,
denn gerade im Moment fühlte er sich unerträglich dumm,
etwa so dumm wie eine juckende Stelle unter einem Gipsverband um ein
geschwollenes Gelenk. So dumm wie die schlaue Zeichnung des
Homunkulus auf diejenigen wirkt, die über dessen große
Extremitäten lachen, die darstellen sollen, wie viel
Hirnaktivität und Nerven in unseren Händen stecken. Sie
hatten gut lachen und Karmelin Knirp schmunzelte wenigstens darüber,
dass es mit der Dummheit so schlimm nicht sein konnte, er hatte
wenigsten nur einen Fuß in Gips und noch alle Finger.
Mit
Mühe machte er sich vor anderen schon wieder über sich
selbst lustig, wenn er etwa seine Wohnung als Behindertenparcours
schilderte.
Wie
zum Beweis wie gesagt, las Karmelin Knirp an dem Tage, an dem sein
Fuß zwecks Schadensanalyse in einen Elektromagneten gehalten
wurde (wobei die Knochen und Bänder zum schwingen gebracht
werden, damit man ihre Resonanz aufzeichnen konnte), ein Buch, das
ein Gelehrter über die Dummheit verfasst hatte, beziehungsweise
genauer: Karmelin Knirp trug dieses Buch nur bis zum Ort der
Untersuchung mit sich und wieder zurück, um dann keine Zeit zu
haben, darin zu lesen, denn schließlich sollte er untersucht
werden und dafür musste er gehen, stehen, liegen, sitzen
undsoweiter und so fort, wobei ihm die junge Ärztin sagte, wie
und wohin, an ihm ruckte, unter ihn schob und ihn verzurrte. Für
das Buch hatte er gerade soviel Verwendung, es auszupacken, wobei ihm
die Krückstöcke hinfielen, so dass die Ärztin sie
aufheben musste und ihn praktisch unterwies, wie man diese stellen
könne, ohne dass sie fielen, worauf er sagte, das (also fallen)
täten sie ja bei ihm zu Hause auch immer, wobei ihr Blick auf
sein Buch fiel. Sie mochte in dem Moment x am genauesten erfasst
haben, als es in ihrer Toleranzbereichsanzeige für auffallend
unerträglich dumme Patienten, die sie direkt hinter ihren hellen
Augen trug, für ihn einen Ausschlag gab.
Später,
während des fortschreitenden Heilungsprozesses kam ihm der
Gedanke, dass es vielleicht nur für das Lachen kein rechtes Maß
gäbe, das als Ausgleich diente, um der Dummheit zwar nicht Herr
zu werden, sie aber wenigstens erträglich sein zu lassen –
somit sogar einträglich.
365/eins wurde 2005 in Belletristik 02, Magazin des Verlagshauses J.Frank Berlin, heute Verlagshaus Berlin veröffentlicht.
Gezeiten
Gestern
wurden mir zwei Zähne ausgeschlagen, an denen ich noch gehangen
habe. Seitdem klafft ein Loch in der Zahnreihe am Oberkiefer und
meine Aussprache ist noch unsauberer geworden. Nicht, dass ich vorher
viel geredet hätte, eigentlich habe ich das immer vermieden,
doch der Krieg hat seine eigenen Regeln, er fordert beispielsweise,
andere Uniformträger zu grüßen, vor allem die
Höherrangigen, aber ich kann mir nicht merken, was höherrangig
ist, ein Major oder ein Hauptmann, ich weiß nur, dass ich den
niedrigsten aller Ränge habe und nicht mehr General werde.
„ Können
Sie nicht anständig Meldung machen?“ hat mich der
Höherrangige angeschnauzt, ich war müde und wollte an ihm
vorbei durch die Tür in die Unterkunft treten.
„ Das
kann ich schon, Herr Leutnant“, habe ich gesagt, „nur
habe ich nichts zu melden, das den Aufwand für uns beide
lohnte.“ Das waren sehr viel mehr Worte, als ich den ganzen Tag
gesprochen hatte und die Nacht davor, als ich im Häuserkampf
Vorrücken gespielt habe. Ich habe die ganze Zeit gehofft, der
Feind würde mich gründlich treffen, sauber in den Kopf oder
durch die Wirbelsäule.
Mir
schmeckt das nicht. Vorrücken und Zurückweichen und überall
hat die Stadt keine Ähnlichkeit mehr mit der Stadt, in der ich
mit Mädchen geflirtet habe, in den Clubs getanzt, auf der Wiese
gelegen oder im Café gesessen. Nichts stimmt mehr. Die Farbe
ist falsch, alles graubräunlich bestäubt. Die Aussicht ist
falsch: Große Trichter, wo Straßenbahnen hingehörten,
einzelne Wände, wo alte Architektur sein sollte. Die Plätze
menschenleer. Ich kann keinen Sinn darin erkennen, etwas zu
verteidigen, was schon verloren ist. Ging es um unser kulturelles
Miteinander, Courage und Haltung?
Der
Leutnant, der ein Oberstleutnant war, hatte keine Zeit für
Richtigstellungen oder moralische Wiederaufbauhilfe, er griff nach
dem Koppel und schlug mir ins Gesicht, nicht hart genug, um mich von
der Dienstpflicht zu entbinden. Dabei schrie er, dass nicht ich zu
entscheiden habe, was notwendig sei und was nicht. Diese Leute waren
aus dem Leben gekrochen, das Krieg nur vom Hörensagen kannte,
als hätten sie darauf gewartet, dass es ihnen endlich die
Gelegenheit gäbe, Leuten ins Gesicht zu schlagen und mir die
Zähne aus der Hand, die ich dort hinein gespuckt habe, als wären
es Kleinigkeiten. Mag schon sein, es waren bloß Kleinigkeiten,
so viele von meinen Kleinigkeiten, die nun nutzlos waren.
Manchmal
sind einige von uns in fassungsloses Gelächter ausgebrochen,
weil sie nicht glauben konnten, was da passierte. Sie sahen sich an
in ihren Uniformen (dass es überhaupt so plötzlich so viele
Uniformen gab!), mit Gewehren im Arm und mussten lachen. So war es
anfangs. Das viele Geschrei aus Schmerz und Angst und Befehl hat das
Lachen aus der Wirklichkeit geblasen.
Wenn
mich noch etwas wunderte, dann die Tatsache, dass ich überhaupt
noch vor und zurück rückte, normalerweise lagen diejenigen,
die lachten zuerst auf dem Gesicht.
Da
will ich auch liegen.
Von
mir ist nichts geblieben. Was ich vorher gesammelt habe, ist nicht
mehr gefragt, den Anstand zu wahren etwa oder Konflikten aus dem Weg
zu gehen oder mir eine Meinung darüber zu bilden, wie es gehen
könne, weiter gehen, immer weiter.
Als
wir vor die Stadt verlegt wurden, habe ich immer zu hoch gezielt, ich
dachte daran, mich auf diese Art verweigern zu können. Ich habe
das Gewehr angesetzt und über sechzig Schuss in der Sekunde in
den Himmel losgelassen, in jedem Fall über Kopfhöhe, um
bloß kein armes Schwein zu treffen, das auch nicht gefragt
wurde. Vielleicht ginge es dann schneller vorbei, habe ich gehofft,
vielleicht kann ich dann schlafen, obwohl die Granaten dröhnten,
obwohl laufend in Befehlen oder vor Schmerzen gebrüllt wurde.
Obwohl es hier brannte und dort Panzer fuhren, obwohl Alarm klang und
Flugzeuge tief flogen. Wozu wir Gewehre hatten, verstand ich erst,
als ich den Wunsch verspürte, erlöst zu werden, aber wenn
der Feind auch zu hoch schoss, würde er mich nicht treffen, und
wenn er sich dasselbe von mir wünschte, musste ich ihm den
Gefallen tun, zu zielen.
„ Wir
werden siegen“ meinte mich nicht, sowenig wie „wir werden
untergehen“. Unter „Du kommst auch noch dran“
konnte ich mir hingegen etwas vorstellen.
Als
es nach Wochen oder Monaten aufhörte - ich kann es nicht genau
sagen, weil ich nicht mehr weiß, wann es angefangen hat - als
diese Stille einsetzte, so plötzlich und gewaltig, dass ich
glaubte, meine Trommelfelle seien geplatzt, standen auch die
Gesichter ganz still. Die Körper bewegten sich weiterhin
geschäftig zu neuen Zielen, aber immer unter Vorbehalt der
Beteiligung des Gesichtes. Keiner sprach mehr laut. Ich bildete mir
eine Seifenblase um die Wahrnehmung der Zerstörung, der
Bedrohung. Darin ging es weiter. Erstaunlicherweise begannen viele
Dinge wieder zu funktionieren. Man hatte ein Bedürfnis, aus der
Stadt zu verschwinden, es fuhren Züge und Busse an die Küste,
wo man saß und dem Meer zusah, wie es vor und zurück
rückte.
Ob
es den Krieg jemals gegeben hatte, oder ob er wieder anfangen würde,
war ganz unerheblich. Drei Tage lang waren wir bloße ungerührte
Existenz, von Nahrung, Wetter und Schlaf umgeben, sonst interesselos.
Kinder waren zu sehen und Mütter.
Als
es wieder losging, sah ich hin, bevor ich schoss, zielte und traf.
Vielleicht würde es auf die eine oder andere Weise schneller
vorbeigehen. Ich sah, wie sie fielen, ich sah, wenn sie zurück
feuerten, duckte mich unwillkürlich und schoss wieder, wenn es
möglich war. Wir rückten vor und zurück, Abschnitte,
Straßenzüge, Befestigungen, Feuerpausen, Kessel.
Ich
sah meine Zähne vor mir im Staub auf der Straße liegen.
Ich lag auf allen vieren vor dem brüllenden Dienstgrad. Ich sah
meine Reflektion in einer unversehrten Fensterscheibe, es sah mir
ähnlich wie ein sechzig Jahre altes Foto meines Großvaters.
Kontrastschwach durch den Überzug aus Trümmerstaub. Der
Dienstgrad hatte Recht. Blutverschmiert, geschwollenes Gesicht,
fehlende Zähne: Ich sah verschlagen aus, wie ein Verbrecher, er
hatte Recht, mich zu fürchten. Er schlug mich zur Verteidigung.
Ich sah hin, zielte und schoss. Vielleicht wird es so noch schneller
zu Ende gehen. Vielleicht. Heute noch.
Gezeiten wurde mit dem Literaturpreis Prenzlauer Berg 2008 ausgezeichnet.
Abschöpfung
Broschüre:
Vorlage für Hochglanz B/0607/V.3
Wir
reißen die Dächer auf, schütteln die Fassaden und
Humanoiden purzeln auf die vibrierenden Straßen. Wie Sandkörner
formen sie sich zu Wellen, wulsten an den Rändern und fallen von
der Schüssel in Lagerhallen voller Fahrräder. Endlich
nutzbar, determiniert durch die in ihren Beinen verborgene
Lorentzkraft.
Die
Lenker sind kreisförmig aufgestellt, den Außenwänden
zugewandt. Daran hängen auf Leinwand gebrachte Fotografien von
Wüstenlandschaften, zwei bis vier Monde über graugelben
Dünen. Jedes Hinterrad, das den Boden nicht berührt,
betreibt einen Keilriemen, an der Antriebsachse einer Spule
angebracht, die sich dreht, neben einer zweiten Spule, die sich nicht
dreht. Bei nachlassendem mechanischen Antrieb wird die erbrachte
Energie zur Aufrechterhaltung der Bewegung genutzt. Dies dient der
Effizienz: erhebliche Leistungsschwankungen werden durch gleichmäßige
Stromerzeugung vermieden. Dazu ertönt ein Warnsignal als
Aufforderung, die nötige Impulskraft nicht zu unterschreiten.
Zwar ist dies mit Einbußen des Energieertrages verbunden,
zugleich aber kaum risikobehaftet und vergleichsweise wenig
wartungsintensiv. Das gleiche Verfahren der höchstmöglich
gestalteten Verlustfreiheit wird bei Schichtwechsel angewandt.
Die
Antreiber betreten dankbar die Halle, von der Schönheit der
Notwendigkeit durchdrungen. Sobald die anatomische Einpassung
vorgenommen und die Bewegung von den ersten Stößen in lang
aufrecht erhaltbare Gleichmäßigkeit gebracht wurde,
erkennt die Einheit selbsttätig das Erreichen der
Betriebsspannung. Gleichmaß beugt Verschleiß vor; die
Einheit benötigt zur Erreichung der Rentabilität im Mittel
280 Kilowatt je Stunde.
Plusproduktion ist nicht vorgesehen, wird jedoch zur Befriedfähigung
des Schichtzusammenhaltes im Diodensichtfeld am Lenker
diagnostiziert. Dort finden sich neben der Zeitmessanzeige die
Angaben über Ableistung und Hochrechnung.
Da
erkennbar war, dass ausreichende Mengen Material zur Verfügung
stehen würden, wurde in diversen Testreihen das Verhältnis
von sechs Antreibern in je zwei Phasen pro Tag je Radeinheit als
Optimum festgelegt, woraus folgt, dass ein Antreiber vier Stunden
betreibt, sechs Stunden im Betrieb verbleibt, inbegriffen anderthalb
Stunden im Ruheraum begangene Pflege, hier liegen Mittel zur
Versorgung der Reibungsschäden aus, stehen Flüssigkeit und
Nahrung zur Verfügung, sowie je fünfzehn Minuten Bereitung.
Insofern der Antriebsübergabemodus optimal ausgeführt wird,
wird die Eigenspannung der Einheiten in den zwölf nötigen
Wechseln für weniger als 120 Sekunden unterschritten. Dazu ist
es unerlässlich, die Anpassungen an die anatomischen
Gegebenheiten der sich abwechselnden Antreiber möglichst gering
zu halten: Räder mit größerer Übersetzung stehen
in der Raummitte, kleinere im äußeren Bereich.
Die
Vermessung wird einmalig vorgenommen. Unvermeidlichen Ausfällen
wird durch bereitstehende Reservetreiber vorgebeugt, Ruhetage auf
diese Weise im Turnus vergeben und ein Lächeln senkt sich nach
vollzogener Berundung in die Wohlverdienung.
Bilanziert
man den energetischen Aufwand und Ertrag der Anlagen, kann man
feststellen, dass die Forschung sich nach sechs, der Bau nach neun,
der Betrieb sich nach einem Monat ausgeglichen darstellt, so dass
sich nach nur sechzehnmonatiger Betriebszeit die Energiekosten
amortisiert haben, die Versorgungskosten der Schaffer und Treiber
nach weiteren vier, der Materialeinsatz nach acht Monaten ausgleichen
lassen und sich somit in weniger als zweieinhalb Jahren eine
zukunftsfähige, ressourcenschonende und regenerierende
Energieentstehung mit Gewinn betreiben lässt.
In
Nischen von noch möglichem wachsenden Schaffen der Wirte wird
bereits vom sozihygienischen Faktor abgesehen.
Dies
zollt sich Respekt.
Die Gelegenheit
Mir
war schon schlecht. Dann stieg ich aus, am Zoologischen Garten. Dort
treppab im Fettschwank und links um am Supermarkt vorbei, im Eingang
steht ein dicker, muskelbepackter Mann mit Zigarettenqualmwolke um
sich herum. Keine zehn Sekunden später spricht mich einer an,
alt, verkommen, vielleicht kann er nichts mehr dafür, tui
nemeckii, ich lächel nur noch schief und ignoriere sein Gesicht,
dass mir ein Anliegen nah bringen will, nein lass mich, keine
Anliegen, hier wird jetzt niemandem geholfen. Am Burgerbräter
entlang, erneut Fettausdünstungen, im Fenster gelangweilt
mahlende Gesichter, Plastikessen in den Händen, der Geschmack
treibt sie zu keinem Ausdruck an.
Ich
hab nichts gegessen. Das ist ein Fehler. Zigaretten hab ich geraucht,
das Nervengift ist spürbar, ich denke, so fühlt es sich an,
wenn man einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall bekommt, aber für
eine Vorsorgeuntersuchung, die die Krankenkasse bezahlt, bin ich zu
jung noch, ein Hohn, für alles sonst zu alt schon, im
Zwischenleben, nutzlos den Produzenten, wertlos den Vermarktern,
lästig den Verwaltern, in allem Überfluss.
Der
Kopf platzt langsam, stetig, überall ehemalige Muskulatur,
verkrampft auf Nervenbündeln liegend, in die keine thailändische
Lohnsklavin ihre zarten Finger gräbt, das Hemd ist nicht teuer
genug, ohne Schlips noch dazu. Dem Verkehr aus glänzenden
Karossen und dreckigem ÖPNV begegne ich als Fußgänger,
dem eine Nase zuviel im Gesicht gewachsen ist; gib ja nichts auf
deine Sinneseindrücke, der Kurfürstendamm, Startpunkt eines
jeden erlebnishungrigen Touristen, stinkt nach Gosse, nach Kanal, der
voll ist, ich hab dünn in ihn geschissen, weil ich zu keiner
gesunden Verdauung in der Lage bin, aufwachend mit Druck, denkend
unter Druck, fußläufig mein Ziel erreichend unter Druck,
wieder zu spät anzukommen, unpassend gekleidet, Träger
einer verzweifelten Bitte, ankommend mit schwitzenden Händen,
weggeschickt mit einem zuviel an Zeit, sonst allen zuwenig, Geschäfte
Geschäfte, meine Zeit ist nichts wert, wer will sie, zu teuer.
Sie vergeht. Und ich bitte nur darum, dass sie vergeht. Und es tut
mir leid um sie, weil sie vergeht, und alles was einmal war, fand in
Lebensumständen statt, die mir romantisch vorkommen, ach ja,
damals, das war leicht, da war dieser Druck noch nicht da, der Druck
dieser Gegenwart, die aufzuladen ist mit Verheißung, mit
Zukunft, mit Sicherheit, die dem zu bieten hat, der etwas bieten
will: Einen Eindruck, ein Zuhause. Eine Familie.
Hier
kann man Duftstoffe kaufen, mit denen ich den Gestank meines
Angstschweißes überdecken könnte, Wirkung, Hormone,
Ersatz. Zu teuer. Recht und billig.
In
einem dieser Glasklötze findet das Seminar statt, zu dem ich
einen Bildungsgutschein habe und ich kann mich noch daran erinnern,
wie ich den aus der Sachbearbeiterin rausgeleiert habe und auch
daran, wie ihr die Schwere der Entscheidung im schmallippigen Gesicht
stand; ihre Mittel seien ja begrenzt, und wenn sie mir den Schein
gäbe, hätte sie wieder einen weniger und das ist
Identifikation mit der ihr anvertrauten Aufgabe, gelebte
Verantwortung, aber ich weiß auf Teufel komm raus nicht mehr,
wo ich das hergenommen habe, die Überzeugungskraft, dass ich es
wert wäre: ihr Vertrauen, diesen Schein, ihre Hilfe.
Ich
will noch eine rauchen. Ich sehe dieses Gebäude und fühle
schon die Wirkung des Neonlichtes auf meiner Haut, fühle die
Auslegware unter den Sohlen meiner nicht mehr guten Schuhe, sehe die
Auslegware auf dem Weg zur Toilette, wenn nach anderthalb Stunden die
erste Pause gemacht wird, schmecke den Maschinenkaffee, der in einem
bedruckten Becher schwimmt, ICBS Sales Management & Controlling,
dünn, bitter, süß, sehe das Clipbord, auf dem
ungelenk notiert ist, was zu tun ist, was man tun muss, wirklich tun,
um eine Chance zu einer Gesprächseinladung zu erhalten,
initiativ, höre den Ton des Projektors, der die Folien
durchleuchtet, auf denen steht, wie man sich vorbereitet, das Beste
aus sich zu machen, das Beste was möglich ist, einen Eindruck zu
hinterlassen, eine positive Ausstrahlung, die auf Tatkraft,
Teamfähigkeit, Durchsetzungsstärke, Kreativität
schließen lässt, zeigt, das man ein Vermarktungsprofi ist.
Das muss ich lernen. Und ich rieche die Luft, verbraucht, zäh
weggeatmet, von uns Konkurrenten um den dynamischsten Willen, so zu
sein, wie der Markt, nein, wie die vielfältigen Möglichkeiten
zur Entfaltung der individuellen Stärken es erfordern, und meine
Haut ist grau, um mein Fleisch gewickelt wie abgegriffen, nur an den
Fingerspitzen der rechten Hand gelb, die sehe ich jetzt, als ich die
Zigarette zu einem letzten Zug an die Lippen führe.
Vielleicht
fragt ja mal jemand, worin der Wert der eigenen Persönlichkeit
liege, wenn man sie nach den Erfordernissen der sich stetig
wandelnden Dienstleistungsgesellschaft ausrichten müsse,
vielleicht stockt der perfekt gekleidete Seminarleiter einen Moment
und zeigt ein dummes, ein aufrichtiges Gesicht. Wahrscheinlich nicht.
Es wird dunkel sein, wenn ich den gleichen Weg wieder nach Hause
fahre, vielleicht mit einem anderen Kursteilnehmer zusammen. Wir
werden erschöpft sein, wir werden nicht darüber sprechen,
wo wir das von nun an anwenden wollen, wozu wir das brauchen können.
Denn darum darf es ja nicht gehen, so dürfen Sie nicht fragen,
zunächst müssen Sie sich einbringen, um Ihre Ressourcen
gewinnbringend auszuschöpfen, zunächst müssen Sie Ihre
Performancefähigkeiten genau analysieren. Wir werden uns fragen,
was wir sonst so machen, er hat ja früher mal und ich ja
schließlich auch schon. Und dein Zuhause wird unverändert
sein, aber es kann dich nicht wohlig umfangen, es wird dich fragen,
was Du mitgebracht hast, was du von nun an aus ihm mitnehmen wirst,
um mit etwas mehr wiederzukommen. Aber heute nicht. Eine gründliche
Vorbereitung gehört zu einem erfolgreichen Unternehmensstart.
Heute wird es kalt und fremd sein und dich fragen, ob du es dir denn
auch verdient hast. Du hast heute keinen Feierabend, du hast heute
nicht gearbeitet, du fängst erst an, du hast also noch gar nicht
angefangen, was hast du eigentlich bisher gemacht, du musst dich erst
vorbereiten, du bist also noch gar nicht bereit, worauf wartest du
denn noch.
Ich
möchte noch eine rauchen aber ich gehe durch die verglaste
Drehtür und hoffe, dass es vorbeigeht, ich lese die Tafeln, auf
denen steht, wo welche Unternehmen ihr Büro haben, Fahrstuhl,
Stockwerk, Türklinke, mattsilbrig, Tür weiß,
Neonlicht, Auslegware, mittelgrau, ich gehe direkt auf die Toilette,
lese nicht die Schilder Konferenz 1 Konferenz 2 Teeküche, ich
würge, es kommt nichts, ich spüle trotzdem und wasche mir
die Hände.
Ich
verlasse das Gebäude. Mein Schritt ist schwer. Ohne Ziel ist es
noch mühsamer, fortzukommen. Die nicht mehr guten Schuhe sind
jetzt noch ein bisschen verbrauchter. Zoologischer Garten, Giraffe an
Hochhaus. Geruch von Elefantenhaus. Ich setze mich auf eine Bank am
Wasser. Touristen fahren auf einem Schiff vorbei. Ich friere nicht.
Auf einer anderen Bank schläft ein Penner, Entschuldigung, ein
Obdachloser. Ein Penner. Ich rauche noch eine. Es geht mir besser. So
geht es nicht weiter.
Spielplatz
So
wie es früher schon war. Du kommst mit Deinem neuen Ball auf den
Bolzplatz, um mit den anderen Kindern zu spielen. Aus irgendeinem
Grund, den du nicht kennst, bilden die anderen eine Gemeinschaft, die
als inneren Zusammenhalt vor allen Dingen wie Kleidung,
Sportlichkeit, Alter oder dem gemeinsamen Wohnviertel ihre
Abschottung braucht, gegen alle anderen, alle Fremden, gegen alle die
fragen müssen, ob sie mitspielen dürfen - gegen dich. Das
geht schon so, seitdem du hier hergezogen bist und mit deinen
Draußenklamotten und dem BMX-Rad zum Bolzplatz gefahren bist.
Manchmal haben sie dich auch schon mal mitspielen lassen, aber dann
hast du den Ball nicht bekommen oder du wurdest mit dem Gesicht in
die Ecke gedrückt, in die alle immer hinpinkeln. Dann bist du
flennend weggefahren. Aber du bist wiedergekommen, hast eine Stunde
nebendran stehend zugeguckt, wie die anderen lachen, rennen, Sprüche
machen und dich - von drinnen - mit Kommentaren bedachten. Das
konnten besonders die Älteren gut, vor allem Holger hatte es
drauf, der musste dich gar nicht anfassen, der konnte dich nur mit
Worten völlig fertigmachen, du warst so wütend, du konntest
nichts sagen, kein Wort, und immer wenn er gemerkt hat, dass es wirkt
und du schon wieder losheulen und abhauen wolltest, hat er gesagt,
komm, war bloß ein Witz, bist doch kein Mädchen, komm,
kannst mitmachen. Manchmal hat er dann Jan was zugeflüstert,
Simon hat dich in den Schwitzkasten genommen und Jan hat die Luft aus
deinem Reifen gelassen. Und du warst froh, wenn sie mal Olli am
Schafittchen hatten. Dann hast du gelacht, kein helles Kinderlachen,
sondern so ein verdruckstes, anbiederndes. Draußen standest du
natürlich trotzdem. Als du mit deinem neuen Ball gekommen bist -
das haben die sofort gemerkt, du hattest so was an dir, so eine
kindliche Freude, die andere Kinder riechen können und die sie
nicht aushalten können. Da geht sofort der Instinkt an:
Kaputtmachen, aber die waren so richtig schlau. Holger hatte es echt
drauf, hey, geil, zeig mal, ist das der neue Tango, cool, das ist ja
der Weltmeisterschaftsball, nicht? Kann ich den mal sehen, gib mal
bitte. Das hast du auch gleich gemacht, das bisschen Aufmerksamkeit
hat dich sofort gefügig gemacht. Du hast ihm den Ball gegeben
und gegrient über beide Ohren, stolz, wie der da deinen Ball
bestaunt hat, tipptipptipp, mit den Füßen hochgehalten,
das konnten die immer gut, tipptipp, und dann hat er ihn zu Fredi
gepasst, und der tipptipp ihn zu Holger zurück. Gleich kommt es,
denkt man, oder? Kam es aber nicht, Holger hat zwei Mannschaften
gebildet und dich in seine gesteckt und dann wurde losgespielt. Hin
und her, wir schießen ein Tor und Holger schnappt sich den Ball
und mimt Torjubel im ausverkauften Stadion und schießt den Ball
auf die Wiese, mit voller Kraft. Du siehst ihnl fliegen und denkst
gar nichts währenddessen, du hast nur so ein flaues Gefühl
von Nein, aus dem die Luft entweicht, wie aus deinem Reifen, an deren
Ventilen Jan gerade rumdreht, um sie einzustecken. Kein großes
Problem, denkt man, oder? Geht man halt hin, holt die Ventile und
dann den Ball. Den Bruder holt man nicht. Man würde schon
wollen, aber der lacht einen immer aus. Kannst das nicht selber,
Schwächling? Hab ich jetzt echt kein Bock drauf, musst dich
schon selber kümmern. Kann man also auch nicht mit drohen, wird
man so oder so ausgelacht. Das mit den Ventilen dauert, weil das für
Jan sehr bequem ist, er muss gar nichts machen und kriegt die volle
Show geboten: du, einen halben Kopf kleiner, schwitzend und greinend,
gib her, gib her, gib die jetzt her, mann gib das her, gib das her
jetzt, jetzt gib die her, ey - er die Ventile in der Hosentasche und
dieses fiese Grinsen im Gesicht. Das musst du dir nur vorstellen und
schon möchtest du ihn totschlagen, dieses scheißwiderliche
Grinsen in seinem Gesicht zu Brei schlagen, das stellst du dir vor,
immer und immer wieder, sonntags nachmittags, wenn eh keiner auf dem
Bolzplatz ist, mit zusammenbissenen Zähnen, vor dem Gesicht
geballten Fäusten und geschlossenen Augen stellst du es dir vor.
Und während der ganzen Zeit, in der du an Jan rumzerrst und
immer wieder mit den Knien auf den Boden fällst, buhuhu, denkst
du an deinen neuen Ball, dass der schon weg sein könnte, aber
wenn er nicht weg ist, hast du trotzdem ein Problem, und das kannst
du nicht mit der brachialen Gewalt lösen, die du gerade
anzuwenden versuchst, weil der Ball auf der Wiese liegt, und auf der
Wiese liegen Kuhfladen, und die Kuhfladen werden da von den zwanzig
bis dreißig Kühen hingemacht, und die Kühe werden von
einem Zaun auf der Wiese gehalten, und durch den Zaun fließt
Strom, und vor dem Zaun liegt ein Graben, der immer voll Wasser steht
und das Gatter zu der Wiese liegt hinter dem Hof vom Bauern, und der
Hof ist zwei Kilometer die Straße runter, und in deinem Fahrrad
ist keine Luft und deshalb musst du entweder klettern oder den ganzen
Weg laufen und Kühe machen dir Angst, weil sie erst mal nur
neugierig sind und angelaufen kommen um zu gucken, aber das weißt
du nicht, du denkst, die wollen dir wer weiß was, und deshalb
schlägst du noch wütender auf Jan ein, aber der ist
stärker, der muss dich nur auf dem Boden drücken und du
hast Sand zwischen den Zähnen und heulst vor Wut mit dem Gesicht
im Matsch.
So
ist es heute auch. Nachdem du nach Niederschöneweide raus
gefahren bist, dem Wunsch entsprochen hast, Dein Projekt in der
Seminarpause vorzustellen, - du bist zu früh, du wartest noch im
Flur, seine Sekretärin hat dir erklärt, dass sich heute
leider alles ein wenig nach hinten verschiebt - sitzt Du vor Herrn
Wartenberg und seinem Schild auf dem steht „Hr. Wartenberg“,
gerade noch ging er an dir vorbei, du warst aufgestanden, ihn zu
grüßen, fingst einen irritierten Blick auf, dein Gesicht
kennt er noch nicht. Was kann ich für Sie tun, und du reichst
ihm deine Mappe und zeigst deine frisch erworbene Qualifikation, die
er ungeöffnet auf der rechten Seite seines Schreibtisches
ablegt, du lehnst dich zurück, federst, das gebogene Stahlrohr
ermöglicht die Federwirkung des Sitzmöbels, Kennerblick:
Mies van der Rohe, er lächelt pausenvoll und du fragst, ob du
vielleicht mitspielen, dein Projekt ausführlich erläutern
dürftest, man könnte, du würdest gern, - während
er schon wieder aufsteht, ich kann Ihnen da momentan wenig Hoffnung
machen, aber es ist immer gut, voneinander zu wissen, - noch was
dazulernen. Ich danke ihnen für ihre Zeit. Denn Sie haben
Erfolg, haben Erfahrung und die Mittel. Socializing nennt man das,
das hast du gelernt, du musst dich zeigen, immer wieder, sonst wird
man vergessen. Du wirst den Sand ausspucken, den Mund abputzen und
dann gehst du den Ball holen.
Besessen
Mancher
sagt, dass sich an einigen Ecken, auf Plätzen, Parkbänken
und in Hauseingängen Geister aufhalten, unser Treiben
beobachten, und, wenn sie noch sehr wütend oder kämpferisch
sind, sogar beinflussen. Der Eine oder Andere hat sich schon
beobachtet gefühlt und hinterher waren einige Dinge woanders als
erwartet. Mancher sagt außerdem, dass sie noch da sind - obwohl
eigentlich tot - weil sie nicht erwartet hatten, zu sterben,
überrascht wurden oder einfach nicht einverstanden sind mit
ihrem Verscheiden. Vielleicht hatten sie noch etwas Dringendes zu
tun, das mag ihnen sogar erst hinterher aufgegangen sein, oder sie
wollen jemanden nicht allein lassen. Das ergibt jedoch für den
Betreffenden wenig Sinn, hat er doch wahrscheinlich trotzdem das
Gefühl des Verlustes. Warum? Er kann den Geist nicht sehen,
höchstens vermuten und dann zweifelt er an seinem, na was?
Geist. Tja.
Hat
Ihnen schon mal jemand gesagt, Sie würden mal mit einem Schrecken
von der Welt kommen? Das kann schlimm sein.
Mit
einer Liebe kann es einem ähnlich ergehen. Durch einen bösen
Unfall oder einfach nur durch den Schliff des steten Windes Zeit, aus
Unachtsamkeit oder durch die Erkenntnis der Untüchtigkeit oder
der Unmöglichkeit der Übereinstimmung ist die Liebe
kaputtgegangen. Nun ist sie zwar manchmal, es wäre geradezu zu
wünschen, einfach verschwunden, als wäre sie nicht
dagewesen und keine leere Stelle ist dort, wo sie eben noch war, doch
oft geistert sie noch durch die Leben der eben noch eifrig
Beteiligten.
Er
beispielsweise, der dort bei Regen im Herbst durch die Straßen
läuft, sich treiben lässt, sein Schritt zeigt an, wie
ziellos er eigentlich ist, er nimmt die Nässe von oben zum
Anlass, einer Feuchtigkeit von innen nachzugeben, die sich ihren Weg
aus seinen Augen bahnt. Wäre da keine Liebe gewesen, ergäbe
diese Handlung keinen Sinn.
Oder
sie, die fahrig Gegenstände in einen Karton ordnet, die
offensichtlich nichts miteinander gemein haben, als dass sie sie an
jemanden erinnern, mit dem sie Liebe verband; Liebe ist nicht mehr,
denkt sie, doch dadurch werden die Dinge nicht plötzlich fügsam
und wieder zu ganz gewöhnlichen Dingen, sie sind mit etwas
behaftet, das mit dieser Liebe zu tun hatte und noch da ist. Ich kann
es nicht anders als den Geist der Liebe nennen.
Von
diesen beiden abgesehen.
Da
sind noch zwei, die eben erst beschlossen haben, dass nun nicht mehr
geht, was vorher an ihnen gezogen, gezerrt, sie zum Schreien, Toben,
Weinen, Vögeln, An-Den-Fingern-Halten und weiteren vielfältigen
Verrichtungen geführt hat, bis sie nervös und doch kraftlos
das Weite, oder genauer, die Entfernung zwischen sich und dem Anderen
gesucht haben. Sie gehen unterschiedlich damit um, der eine kann
nicht schlafen, die andere nicht essen, dafür trinken beide.
Irgendetwas ist da also noch, lässt sie nicht los, eine Art
Sehnsucht - nicht nach dem Anderen, nur nach den Sachen, die sie so
machten, die man nicht allein machen kann. Oder will. Dieses
gerichtet sein, das fehlt. Deshalb denken sie noch an den anderen.
Den Anderen. Ständig der Andere. Dann rufen sie ihn doch an,
obwohl ihnen abgeraten wurde, treffen sich wieder, tun sich weh,
halten sich einander gegenseitig vor, können dann da nicht mehr
hindurchsehen, berühren sich noch, aber begreifen sich nicht
mehr, prallen voneinander ab und holen kräftiger Schwung und
stoßen sich heftig dabei. Damit das mal aufhört, und weil
da ja diese Art Energie überschüssig ist, die sich in ihr
ganzes Gegenteil verkehrte, wenn man sie nicht irgendwie einsetzte,
gehen sie also beide los und richten sie auf jemand anderen als den
Anderen. Diese zwei Anderen bekommen nun keine Liebe, sie geraten in
eine Art Geschlechtsverkehr, der nicht eigentlich sie zum Ziel hat,
sie nur trifft, weil die beiden Entzweiten noch von etwas getrieben
sind. Vielleicht bemerken sie es sogar und begreifen die Tat als eine
Art Austreibung.
Was
ich damit sagen will? Es wird nicht ganz einleuchtend.
Möglicherweise, dass die Liebe nicht einfach ein Gefühl
ist, als vielmehr etwas Drittes, fast Lebendiges, das sich den
Liebenden anschließt, wie ein Geist.
Phasenweise
Seine
Frau betrachtete ihn. Er erkannte in ihrem Blick, dass sie es wissen
musste. Er wich ihrem Blick aus, sah die Dinge in ihrem Wohnzimmer:
der Glastisch, die Blumenvase, die Fotos an den Wänden, die
Schnitzerei aus dem gemeinsamen Keniaurlaub. Er sah sie wieder an,
sah, dass sie ihn immer noch betrachtete, sah, dass sie weinen würde,
wusste die Vorwürfe würden kommen, sie hätte mit allem
recht, sah durch Tränen ihre Tränen aufsteigen und wusste,
es war soweit.
Sie
würde ihn niemals in Ruhe lassen. Er hatte es ihr gesagt,
mehrmals, hatte es ihr geschrieben und ins Gesicht gesagt: es ist
vorbei.
Es
muss vorbei sein. Obwohl es schön war. Obwohl er es wollte.
Obwohl er immer auf ihren Mund sehen musste, egal was sie sprach, in
ihre Augen, wenn sie schwiegen. Auch wenn er immer in ihrem Schoß
sein wollte. Trotzdem konnte es auf Dauer nicht gut gehen. Er hatte
geglaubt, sie wüssten es beide. Er hatte ihr gesagt, er habe
sich entschieden. Er werde seine Frau nicht verlassen, seine Familie
nicht im Stich lassen, nicht für ein Abenteuer, das nicht lebbar
sei, das nur im Moment existiere, keine Zukunft habe. Sie war für
einen kurzen Moment still, sagte dann: „Du bist nur feige.“.
Er antwortete ihr, dann sei er eben feige. Er weiß, dass er es
ist, wusste immer, dass er es war, fragte sich, ob andere Männer,
die ihre Frauen betrügen, es auch aus Feigheit taten oder dabei
kalt sein konnten, kalt am Herzen, oder vielleicht Spieler, die das
Risiko sogar genossen.
Er
sagt ihr, es tue ihm leid, es ginge nicht anders. Sie lehnt sich auf
dem Sofa zurück, sie sitzen sich gegenüber. Sie sieht ihn
an, die Haare offen, den Mund leicht geöffnet, zeigt ihm ihre
Zunge, bewegt die Beine in der engen Jeans, er muss schlucken,
betrachtet sie, seine Augen sprechen seinen Worten Hohn. Sie erkennt
ihre Wirkung, kommt zu ihm, setzt sich auf seinen Schoß und
küsst ihn, fordernd, bis seine Hände ihren Arsch umfassen,
sie löst den Kuß, sieht ihn an, lacht ihm ins Gesicht:
Siehst Du? Siehst Du? Was redest Du denn? Wir wissen es doch besser.
Während seine Geilheit ihn sein Gesicht in ihren Schoß
pressen lässt, ihre Handgelenke festhält, ihren Kopf auf
seinen Schwanz drückt, ihre Brüste quetscht, ihren Atem
saugt, mahnt das unterdrückt werden wollende vernünftige
Ich das unaufhaltsame Sich, er könne immer noch aufhören,
könne jederzeit nein sagen, aber ihre Hand greift fest nach ihm,
bewegt die geschwollene Spitze auf ihren Schamlippen auf und ab und
hindert ihn gleichzeitig am Eindringen, das er um so mehr will. Er
kämpft gegen den Widerstand ihrer Hand, sie sieht ihn mit
vorgeschobenem Unterkiefer an: brauchst Du noch mehr Beweise? Willst
Du mir immer noch widerstehen? Widersprechen? Glaubst Du, du könntest
es?
Sie
haben sich in den zwei Jahren, seit sie sich kennen lernten, nur vier
Mal gesehen. Jede Begegnung war für ihn mit einer Verheerung
seiner innersten Gewißheiten verbunden, stellte alle bisher
getroffenen Entscheidungen in Frage. Jedes Mal fühlte er sich
der Enge und Pflicht enthoben, die ihn umgaben und die er nun erst zu
spüren begann. Denen er sich sonst so selbstverständlich
ergab. Er fühlte, sie liebte ihn aus sich heraus. Der er dabei
wurde, war ihm bisher gänzlich unbekannt. Er gab sich dem hin.
Die Erleichterung, die er spürte, schien ihm vorzuführen,
wie festgeschnürt sein Leben bereits war. Während er mit
ihr war, glaubte er, endlich wahrhaftig und frei zu sein. Noch jede
Banalität ihres Zusammenseins schien ihm wie mit Musik
untermalt. Diese erste Phase war die romantische Überraschung,
die Empfindung der Verbundenheit ihrer Seelen, voller alles
verdrängenden ständigen Vorfreude auf das nächste
Treffen nach ihrer verheerenden ersten zufälligen Nacht. Meer
und Berge rahmten die Sensationen von Losgelöstheit und Größe
ein, das unpersönliche Tagungshotel erschien ihnen als warme
Heimat ihrer großen Liebe. Sie glaubten sich in einander
aufgehoben und geborgen. Aufgeregt, leicht, wieder jung und rein
durchlebten sie eine Woche, die ohne den Hauch von Konsequenz zu sein
schien, vollkommen, weil das Ende dieser Begegnung schon ihrem Anfang
eingeschrieben war.
Wenn
es denn das Ende gewesen wäre. Aber sie schrieben sich
hinterher, platonische zweite Phase, erst unregelmäßig und
kurz, dann leidenschaftlicher. Die Briefe ermöglichten den
Ausdruck von Phantasien, die keinen Abdruck im Alltag hinterließen,
die versprachen, was sie sich niemals einlösen mussten. Ihm
träumte, die perfekte Geliebte gefunden zu haben: Weniger als
eine Beziehung, mehr als eine Affäre. Sie stellte keine
Ansprüche und war umsichtig genug, nicht anzurufen oder etwa
Adressat und Absender per Hand auf den Briefumschlag zu schreiben. Es
war für ihn die makellose Fortsetzung der erlebten Befreiung,
ohne Verbindung zum Realen, geheim und völlig folgenlos.
Zumindest
hätte es folgenlos bleiben sollen. Von ihm unbemerkt aber bekam
ihrer beider Leidenschaft eine neue Qualität, sie traten in
Phase drei ein, die bedenkenlose Gier. Vorsätzlich wird eine Tat
erst durch die Wiederholung, durch Wiederholung und Planung, die
nötig ist, nötig war, ihr zweites Treffen zu ermöglichen.
Sie schrieb ihm, es ergäbe sich eine Gelegenheit: Sie habe Zeit
und ein Haus in den Bergen zu Ihrer Verfügung, er müsse nur
etwas vorschützen und kommen. Gibt es überhaupt so etwas
wie einen Entscheidungsprozess? Hat man nicht vielmehr im ersten
Moment entschieden, in dem eine Idee auftaucht? So sehr er das Für
und Wider bedenken mochte, er wollte sie sehen - sofort, als er von
der Gelegenheit erfuhr. Während er vor sich selbst so tat, als
würde er abwägen, plante er eigentlich bereits seine
Abwesenheit, seine Flucht, seinen Betrug. Dass es Betrug war, schlich
sich ihm nur langsam währenddessen als Eingeständnis ein.
Warum sollte er aber nicht? Wenn es denn geheim bliebe, täte es
doch allen Beteiligten nur Gutes, Austausch positiver Energien,
Freude.
Dieses
zweite Treffen lebten sie als einen Liebesurlaub, so kitschig, wie es
der Begriff vermuten lässt. Es stellte sich ihnen eine
Vertrautheit ein, die sie zum Weinen brachte, wenn sie daran dachten,
loslassen, sich wieder trennen, wieder ins eingeübte Leben
zurück zu müssen.
Zum
ersten Mal uneins waren sie sich, als sie über den
bevorstehenden Abschied sprachen. Sie erzählte ihm davon, dass
es ihr nicht mehr gefalle, wie sie lebte, sie glaubte nicht an ihre
Arbeit, sah dort für ihre eigentliche berufliche Leidenschaft
keine Perspektive, wollte Veränderung und dergleichen mehr.
Jetzt, mit ihm, hatte sie gefunden, wonach sie solange gesucht hatte:
die große Liebe, die mit der Sturmkraft eines Gewitters alle
ihre Selbstzweifel und zerstörerische Energie ableiten konnte.
Seit sie mit ihm sei, habe ihr Leben den Sinn, dessen Fehlen sie
vorher verrückt gemacht hatte. Sie nahm jetzt auch keine
Medikamente mehr. Sie sprach von ihrer Therapie, und dass sie bald
vielleicht nicht mehr nötig sei, da sie jetzt eine gemeinsame
Zukunft hätten. Seine Blicke wurden unruhig, er suchte mit den
Augen den Garten des Hauses ab. Er hatte nicht erwartet, so etwas zu
hören. Sie stellte jenes Zurück in Frage, wollte für
ihre Gemeinsamkeit Bestand, dachte sich eine Zukunft für sie
beide aus, stellte ihm Fragen zu seiner Familie, seiner Frau, seinen
Kindern, fragte auch ob er glücklich sei mit ihr, sie
wiederholte die Wendungen, die er gebraucht hatte, um die Erlösung
zu beschreiben, von der er gesprochen hatte, die er empfunden hatte,
wenn er mit ihr zusammen war. Die Zukunft macht die Gegenwart zur
Vergangenheit. Sie fing an, zu kämpfen, aber das verstand er
noch nicht, schob es auf die Sentimentalität des nahenden
Abschiedes, auf ihre wundervolle maßlose Hingabe.
Er
beendete es damals nicht, sondern versuchte, die Affäre in einem
bemessenen Rahmen zu halten, eine Grenze zu seinem Privatleben zu
ziehen, wie er es zu bezeichnen begann. Als er später daran
dachte, erschien ihm dieser Augenblick des Abschieds die letzte
Chance gewesen zu sein, an dem er es freundschaftlich hätte
beenden können. Zurück im Alltag angelangt, begann er, die
Gefahr zu spüren, die von ihrem fordernden Wesen ausging, immer
mehr musste er vor seiner Frau verschweigen. Es stellte sich ihm eine
Nebenwirklichkeit ein, an die er glauben musste, um sie vor seiner
Familie aufrecht erhalten zu können. Manchmal fragte sich
flüchtig, ob er darin jemals wieder würde ehrlich sein
können.
Auf
einen seiner Briefe kamen zwei von ihr und sie schrieb immer mehr und
immer genauer von der Zukunft, von einer Echtheit im Leben, der man
nur selten und nur glücklicherweise begegnen würde, an der
man keinen Verrat üben dürfe, in dem man sie zugunsten der
Konvention oder der Pflicht verneine. Sie wolle dem Ruf ihrer Seele
folgen – zusammen mit ihm. Zunächst war er von den neuen
Tönen belustigt, hielt es für den Ausgleich, den man
spielerisch betreibt, weil man nicht alles haben kann, was man sich
wünscht, bald jedoch fragte sie in jedem Brief, wann sie sich
endlich wieder sehen würden, ob er noch glücklich sei, wie
sehr er sie vermisse. Wie weit sie noch miteinander fliegen könnten.
Je verbundener sie sich ihm glaubte, desto fremder wurde sie für
ihn. Er begann, sich beim Verfassen der Antwortbriefe an den
Formulierungen heißer Gefühle, die er nicht mehr spürte,
zu langweilen. Immer weniger empfand er, was sie sich alles schworen
und beteuerten, es war nur noch Behauptung und er beschloss, es zu
beenden. Es sei doch schließlich Verrat, für etwas, das
eine Bedeutung hatte, nur noch Hülsen übrig zu haben. So
würden sie die Schönheit in sich bewahren können.
Sie
trafen sich daraufhin ein drittes Mal. Er hatte einen unverfänglichen
Ort ausgewählt, die vielen Tagesausflügler sollten
möglichst keine idyllische Stimmung aufkommen lassen. Mit
trockenem Mund teilte er ihr mit, dass es für sie keine
gemeinsame Zukunft geben würde und dass ihm ihre Beziehung zu
schade für eine belanglose Affäre sei, es also insgesamt
besser sei, sich nicht mehr zu sehen. Zwischen ihnen stand ein Tisch,
die Bedienung der Gaststätte hatte darauf alkoholfreie Getränke
abgestellt, er hielt sich an einem Kaffee fest, rührte Zucker
hinein und betrachtete den sinkenden Milchschaum, sie rauchte
Zigaretten. Er hatte sich vorgenommen, ihre Gefühle zu schonen,
schließlich wollte er nicht, dass seine Ablehnung für sie
zu einer weiteren Verletzung wurde. Es habe ja nichts mit ihr zu tun,
sagte er, zu einer anderen Zeit vielleicht wäre es möglich
gewesen, redete er ihr vor. Er wolle sie schön und stark wissen
und wünschte ihr ein Leben, in dem sie für ihre Stärke
geliebt wurde. Zu einer anderen Zeit und in anderen Umständen,
ohne die Verpflichtung eines Lebens, Menschen, für die er die
Verantwortung übernommen hatte, die auf ihn zählten, ein
Recht darauf hatten und die er nicht enttäuschen wolle, hätten
sie... - Du sprichst nicht aus deinem Herzen, unterbrach sie seinen
Ausbruch im Konjunktiv, er sei nicht mehr schön, wenn er nicht
aus seinem Herzen sprechen würde und sie wolle auch, dass er
schön wäre. Darauf wusste er nichts zu erwidern. Sie glaube
ihm nicht, fügte sie bitter hinzu. Was er denn nun vorhabe, und
ob sie ihm schreiben dürfe. Warum auch nicht, dachte er. Wenn
sie sich noch etwas bewahren konnten, warum denn nicht? Sie blieben
freundschaftlich verbunden, erwachsene Menschen, die eine gemeinsame
Erfahrung teilten, sich wissend anlächeln konnten, wenn ihnen
nach einer kleinen Reminiszenz war. Er war erleichtert und bemerkte
wiederum erst in der Erleichterung, wie die Sache ihn bedrückt
hatte.
Etwa
zwei Monate später schrieb sie ihm, sie habe einen neuen Job
angenommen, sie lebe jetzt fast in seiner Nachbarschaft, es habe sich
zufällig so ergeben. Seit Kurzem erst, sie habe es ihm
eigentlich nicht sagen wollen. Ob sie vorbeikommen könne, sie
wolle ihn nur sehen, wissen wie es ihm ginge. Er rief sie an, er
würde zu ihr kommen.
Ihre
Wirkung auf ihn war unverändert: extrem, körperlich,
chemisch. Er glaubte zu spüren, irgendwo in seinem Kopf raste
eine Unabwendbarkeit ein. Hier warf sie ihm vor, feige zu sein. Dann
sei er eben feige, antwortete er.
Nachdem
sie Sex hatten, erschöpft waren, rauchten, fragte sie ihn, ob er
noch wisse, was er ihr alles erzählt habe. An seinen Brustwarzen
ziehend, erzählte sie ihm, was sie schon alles wisse, wie
nebenbei zählte sie Namen auf, die er erwähnt hatte, die
seiner Kinder, seiner Frau, einiger Freunde, sprach vom Arbeitsplatz
seiner Frau, wie schön er wohne und wo er arbeite, wisse sie
sowieso - sie sprach leichten Tones weiter, während er glaubte,
zum ersten Mal etwas von dem was sie sagte zu verstehen. Zum ersten
Mal hatte er eine Idee, was das bedeuten konnte, zum ersten Mal hatte
er wirklich Angst. Er hörte nicht auf, ihre Haare zu kraulen. Er
versuchte, ihr nicht zu zeigen, dass es wirkte. Sie sah ihm lange ins
Gesicht und er konnte nur denken, dass er keine Angst zeigen durfte,
nicht seinen Abscheu. Er war äußerlich fast vollkommen
ruhig. Alles schlechte Gewissen, das sich vorher in seinem Unterleib
ausbreitete, wenn er in Gegenwart seiner Familie an sie dachte, jede
Furcht vor Entdeckung seiner Unaufrichtigkeit, seiner Geheimnisse,
seiner Lügen, die sich bis dahin ab und zu in Fahrigkeit,
Zerstreutheit und Reizbarkeit ausgedrückt hatte, schien nun wie
eine Vorschau zum Hauptfilm gewesen sein, den er jetzt sah, auf dem
besten Platz sitzend: Sie rutschte an ihm herunter, sah ihm in die
Augen, erfasste seinen Schrecken doch, lächelte, nahm ihn in den
Mund, ließ ihre Zuge kreisen und griff fest um seine Eier, er
krallte eine Hand in ihr Haar, sie stöhnte, sah ihn an –
genoss, was sie sah. Er sah ihren Hintern, sah, wie sie die Knie weit
auseinander aufstellte und nahm sie, nahm sie ihm aller Kraft und Wut
von hinten, drückte sie mit seinem ganzen Gewicht nieder. Sie
schrieen so laut sie konnten, die geöffneten Münder
aufeinander gepresst. Er wollte weglaufen, seine Mundhöhle war
ausgedörrt vom Küssen und vom Widerwillen, sich selbst zu
fühlen, noch hier, noch in sich zu sein.
Mit
dem Rücken an die Wand gelehnt, verschwitzt, groß, nackt,
sah sie zu ihm herunter, auf das erlegte Opfertier, ihre Beute herab.
Sie sah sehr zufrieden mit sich aus, überlegen. Ob er sie
anrufen werde, bald, fragte sie leise und streng, mehr drohend als
bittend, und er bejahte. Sie streckte ihr Geschlecht vor, er musste
hinsehen. Ob er sie wolle, fragte sie, er sagte ihr, er wolle sie
aufessen, mit Haut und Haar. Sie sah ihn lange an, unnachgiebig,
prüfend, fing an zu lächeln, nun endlich auch mit ihm
zufrieden, komm, sagte sie, er kroch ihr entgegen, sie griff in sein
Haar und bog seinen Kopf zurück, zwang ihn sie anzusehen, hielt
seinen Blick fest, seinen Kopf fest an sich gedrückt. Er leckte
sie, sie zog ihn hoch, grinste breit, küsste ihn, klebrig, wund.
Ob er denn wirklich nicht noch bleiben könne? Er würde
gern, aber heute ginge es wirklich nicht, er würde erwartet,
sagte er, in Gedanken nur noch dabei, möglichst schnell zu
verschwinden ohne dass es ihr auffiele. Beim nächsten Mal bliebe
er, bald. Er hörte sich reden, betäubt, versprach ihr
alles, was er glaubte, dass sie hören wolle.
Sie
hatte die nächste Phase eingeläutet, die Form und
Bedingungen einer Beziehung definiert. Er hatte ihr nichts
entgegenzusetzen, nicht mehr, nicht heute. Wozu er jetzt überhaupt
noch in der Lage sein würde, fragte er sich, als er, schwach in
den Knien, endlich ging. Nur ein einziger Gedanke begleitete seinen
Heimweg, er sah nichts, hörte nichts, als die Erinnerungen an
ihre unausgesprochene Erpressung, fühlte nichts als den Wunsch,
von einem barmherzigen Loch im Erdboden verschluckt zu werden, keine
Wut mehr, nur den Wunsch aufzuhören, zu existieren.
Ein
Freund, dem er Teile der Geschichte erzählte, lachte ihn erst
aus, fragte ihn dann, warum er es seiner Frau nicht einfach sagen
konnte. Er schüttelte den Kopf, er würde sich um Kopf und
Kragen reden, alles ginge kaputt. Er bemerkte den zweifelnden Blick
seines Freundes. Du kennst ja meine Frau nicht so wie ich, sagte er,
ich kann ihr das nicht erzählen. Oh Gott, ich schäme mich,
sagte er tatsächlich, oh Gott, ich schäme mich. Na ja,
sagte sein Freund, eine von beiden musst du verlassen. Liebst du denn
deine Frau noch?
Ich
muss sie loswerden, dachte er, und zunächst wurde ihm flau bei
dem Gedanken daran, was dann alles passieren mochte, aber er spürte,
dass etwas von seiner Kraft in ihn zurückkehrte, wenn er daran
dachte, dass es sie nicht mehr geben durfte. Er fragte sich, ob es
denn nicht anders ginge, wieder und wieder, dabei hatte er den
Ausdruck vor Augen, den ihr Gesicht hatte, als sie ihm erzählt
hatte, was sie alles von ihm wisse. Er sah ein, dass er sie nicht
kannte, malte sich aber aus, wozu sie fähig sein konnte, wusste
jetzt, was sie darunter verstand, um ihn kämpfen zu wollen. Sie
wollte ihn haben. Er wusste nicht, ob er sie bitten durfte,
aufzuhören. Das würde sie vielleicht erst recht reizen. Er
fror bei dem Gedanken, keine Möglichkeit zu haben, sie zu
kontrollieren. Er stellte sich vor, wie sie nackt mit dem Rücken
gegen die Wand gelehnt seiner Frau, die vor ihr lag, alles erzählte.
Ihm lief ein Zittern durch die Wirbelsäule dabei, Übelkeit
hatte ihn ergriffen, er hatte den Eindruck, wenn er sich bewegen
würde, müsse er sich erbrechen.
Was
denn in den letzten Wochen mit ihm los wäre, fragte seine Frau,
er sei so fahrig, höre ihr kaum zu. Es sei grad viel zu tun,
schwierige Phase bei der Arbeit, log er. Er log ständig, wurde
ungerecht. Dann erzähl' es mir doch, du redest ja auch kaum noch
mit mir. Dass sie ihn nicht einmal in Ruhe lassen könne, was
denn diese Vorwürfe sollen, er fing an zu schreien, ständig
wolle sie Erklärungen von ihm. Dass man hier nichts mit sich
allein ausmachen könne, schrie er, schmiss die Haustür zu
und ging. Er rannte fort und dachte an ihren Schoß, automatisch
setzte das Prickeln im Unterleib ein, dachte an die Geburt seiner
Kinder, im gleichen Moment. Hauptsache, ich weiß selbst noch,
was Lüge ist, welche Lüge für wen bestimmt war, dachte
er sarkastisch. Wenn es jetzt raus käme - nicht durch ihn, nicht
dadurch, dass er alles gestand, dafür war es zu spät, dafür
ging es schon zu lange - durch sie, eine völlig Fremde, der er
ausgeliefert war, die Macht über ihn hatte, die mehr wusste, als
seine Frau, es konnte jederzeit sein, dass sie den Hebel umlegte, den
Hahn zudrehte, die Blase platzen ließ, solange musste er sie
zufrieden stellen. Was denn für einen Hahn, welchen Hebel,
welche Blase. Er hatte nicht geglaubt, dass sein Leben so sein
konnte, fühlte sich außerstande, klar zu denken. Die
körperlichen Symptome hielten mehrere Tage an, er fing an zu
verdrängen und glaubte, sie sei vernünftig geblieben,
geworden, er wusste es nicht.
Dann
rief sie an. Er versuchte, die Wirkung ihrer Stimme auf ihn vor
seiner Frau zu verbergen. Nein, jetzt ginge es leider nicht, ja, er
würde sich melden. Sie hatte die Telefonnummer seines Zuhauses.
Er hatte kein Zuhause mehr.
Seine
Frau sah ihn an. Wer das gewesen sei, fragte sie, untrügliche
Ahnung. Er log wieder und wusste nicht, ob es überzeugend war.
Er wollte so nicht sein, er wollte sich so nicht fühlen,
unwürdig. Niemand kannte ihn besser als seine Frau, sie hatten
alles miteinander geteilt, sie hatte ihm in Phasen beigestanden,
genauer ihn ertragen, die alles andere als romantisch und leicht
waren. Das war Verrat, wusste er. Sie musste es doch spüren. Sie
würde es doch immer spüren. Nie wieder konnte er ehrlich
sein, nicht ihr gegenüber, sich selbst gegenüber nicht.
Heute morgen stand seine Tochter vor ihm, er hatte sie nicht bemerkt,
er solle sie nicht so ansehen, dass mache ihr Angst. Das musste
aufhören. So würde es nicht weitergehen, er hatte doch ein
Leben.
Er
würde etwas tun, aktiv werden, sein Leben verteidigen, beschloss
er. Er würde kein Opfer sein, der Gnade dieser Fremden
ausgeliefert. Er wusste doch auch genug über sie, hatte sie ihm
nicht alles anvertraut, als sie sich in seinen Armen geborgen wähnte:
Ihre Schübe, ihre Selbstverletzungen, ihre Krankheit? Richtig,
sie war ja krank.
Es
war bis jetzt immer noch ihr Geheimnis, sie hatten sich immer wieder
geschworen, es nicht dadurch zu beschmutzen, dass sie anderen davon
erzählten, die es nichts anging, die so nicht empfinden konnten.
Niemand wusste von ihnen. Niemand musste von ihnen erfahren. Es gab
uns nicht, dachte er, und das würde auch so bleiben. Sie hatte
die Grenze überschritten, die Vereinbarung gebrochen. Er ist es
nicht allein, dem sie schadet, den sie erpresst, er muss seine
Familie beschützen. Wenn sie ihm doch keine Wahl ließe,
wenn sie alles zerstören, wenn sie nicht von selbst aufhören
wolle, dann werde er es beenden, es beenden müssen, bevor sie
seine Familie und sein Leben zerstörte. Er hatte sich jetzt oft
genug gefragt, ob es sein müsse. Nie hat sie ihm eine andere
Antwort gelassen. Sie würde sein Traum sein und er ihre Zukunft
und ihre Vergangenheit.
Er
denkt nun an nichts anderes mehr. Er denkt nachts daran, wenn er
neben seiner schlafenden Frau wach liegt, wenn er mit seinen Kindern
spielt, wenn er am Abendbrottisch sitzt und vortäuscht, er habe
berufliche Sorgen, sei deshalb ständig abgelenkt, aber es würde
vorbeigehen, bald wäre alles wieder in Ordnung und dann würde
es sein, als wäre nichts gewesen. Er brauchte nur sorgfältig
zu sein, genau, strukturiert. Diesmal würde es ihm nicht
passieren. Er entscheidet, er handelt.
Sie
wird sich umbringen. Sie hat die Fremdheit in der neuen Umgebung
nicht ausgehalten. Wie würde sie es wohl anstellen? Sie wird ein
Bad nehmen, dazu Champagner trinken, mach' doch schon mal die Flasche
auf. Sie wird ein Beruhigungsmittel darin aufgelöst haben, viel
davon, die Packung liegt im Badewasser. Die Nocturnes von Chopin
würden in einer Endlosschleife laufen. Das lässt sich doch
alles sehr romantisch gestalten. Nein, er möchte nichts essen.
Lass' mich dich baden. Das wird sie mögen. Das zweite Glas
einfach mitnehmen, nicht abwaschen. Darauf achten, was er angefasst
hat und hinterher alles nur mit Handschuhen und nur mit den
Fingerknöcheln berühren, ihre Fingerspuren nicht
verwischen. Eine ihrer Rührseligkeiten auf dem Schreibtisch
hinterlassen. Auswahl hat er genug. Was gilt es zu vermeiden, worauf
muss man achten. Der Sex würde lange genug her sein. Wenn sie
schon ganz tranig ist, ihre Hand nehmen, die Klinge greifen und tiefe
lange Schnitte ziehen, ohne Kampfspuren. Sich vorher seine Briefe
zeigen lassen, die Absenderadresse hatte er nie draufgeschrieben,
auch mitnehmen, später vernichten. Kopfbedeckung ist wichtig,
Handschuhe. Nicht nochmal hinsehen. Beim Verlassen der Wohnung und
des Hauses gilt es, unbemerkt zu bleiben, einer Satellitenaufnahme
entkommt man durch Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel. In
der Menge verschwinden, die Stadt wird ihm helfen, unbemerkt zu
bleiben, die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten,
einer mehr oder weniger wird nicht auffallen, wohltuende Anonymität,
beruhigend: niemand sieht ihn an. Nur einmal noch schlecht schlafen,
denkt er.
Die fünfte Phase würde es nicht mehr geben.
All
In
Wir
müssen zwei Stunden vorher da sein, wurde uns gesagt. Wir sind
zwei Stunden vorher dort, am Schalter im Flughafen. „Sousse
müssen Sie sehen und Karthago.“ Anscheinend war jeder
schon mal dort. Wir erhalten ein Heftchen und bezahlen.Es sind noch
zwei Stunden bis zum Abflug.
Eine
Heimkehrerin wird empfangen und gefragt, wie es war. „War
schön“, antwortet sie. Wir beschließen, uns diese
Antwort zu eigen zu machen, falls uns jemand fragen würde.
Urlaubsreisende
bilden eine Schlange am Durchgang zum Flugzeug, obwohl dieser noch
verschlossen ist. Wir betrachten dies amüsiert von unseren
Sitzplätzen aus.
Wir
müssen einen Bus besteigen, der uns zum Flugzeug bringt. Als
endlich alle Passagiere im Bus sind, fährt dieser etwa fünfzehn
Meter im Halbkreis und hält, Wir dürfen nun einsteigen.
Im
Flieger ist es eng, heiß und stickig. Freundlicherweise
erhalten wir ein zweites kleines Glas Wasser. Das Essen ist
HALAL, frei von Schweinefleisch und Geschmack. Dazu gibt es einen trockenen
Keks.
Die
Landung ist hart und ruckelig, das Flugzeug steht. Rauschen und
Knacken in den Lautsprechern kündigt eine Nachricht des
Flugkapitäns an: „Bitte bleiben Sie Platz!“
Der
Präsident grüßt die Ankömmlinge von einer
Wandbemalung hinter der Einreiseabfertigung. Hier wird noch
gestempelt. Neben der Gepäckausgabe gibt es einen fensterlosen
Raum, in dem geraucht werden darf. Draußen ist es warm. Deshalb
sind wir hier.
Im
Hotel bekommen wir ein goldglitzerndes Plastikarmband umgelegt, das
wir nicht ablegen dürfen.
An
der Palme im Innenhof des Hotels am Pool kriecht ein Strauch hoch,
der große weiße Blüten trägt. Am nächsten
Morgen sind sie abgeschnitten. Wir ahnen: hier herrscht ein strenges
Protokoll.
Beim
Frühstück besorgen wir eine Salz- und eine
Yogurtüberschwemmung, am Tisch und direkt am Buffet. Kellner
beseitigen die Folgen. Wir werden nicht die beliebtesten Gäste
sein.
Nach
dem Frühstück hören wie eine Einführung unseres
Reiseleiters. Wir wissen jetzt, was inklusive ist und was wir extra
bezahlen müssen. Wir haben jeder einen Massagetermin frei, den
wir sofort buchen müssen. „Sousse und Karthago müssen
Sie sehen.“
Ich
will die Tagesreise nach Karthago und Tunis buchen. Dazu muss ich
mich in die Schlange derjenigen einreihen, die mit dem Reiseleiter
sprechen wollen. Zwei sehr dicke Frauen beschweren sich darüber,
dass Sie als Premiumurlauber nicht jeden Tag à la carte essen
können, am Buffet essen müssen. Der Reiseleiter regelt das.
Eine andere sehr dicke Frau beschwert sich darüber, dass sie mit
ihrer Freundin in einem Bett schlafen muss, wo sie doch erkältet
ist und beide deshalb kaum schlafen können. Der Reiseleiter
schreibt eine Zahl auf einen Zettel und zeigt der Frau die Kosten
eines zusätzlichen Einzelzimmers. „In Euro, Madame.“
„Jaja“, sagt die Frau, „so schnell es geht.“
Der Reiseleiter regelt das.
Wir
wollen den Massagetermin buchen. Die sehr schlecht gelaunte Frau
hinterm Tresen gibt uns nach zweimaligem Nachfragen einen Termin, der
nicht vor dem Frühstück oder nach unserer Abreise liegt.
Dafür auf falsche Namen.
In
der Marina der kleinen Touristenstadt sehen wir die Erzeugnisse der
hiesigen Kunsthandwerkerindustrie. Die Verkäufer sprechen
deutsch, englisch, polnisch und dänisch. Französisch
sowieso.
Wir
betrachten einen Druck eines Gouachegemäldes. Der Verkäufer
erklärt, das habe ein Freund von ihm gemalt. Der habe auch schon
in Berlin ausgestellt. Er sieht ernüchtert aus, als wir
erklären, wir würden uns den Kauf bis zum Rückweg
überlegen. Zweihundert Meter weiter hängen die gleichen
Bilder. Der Maler scheint viele Freunde zu haben.
Jemand
spricht mich an: ich soll ein Tütchen mit Nüssen nehmen.
Ehe ich weiß, wie mir geschieht, habe ich zwei Tütchen mit
Nüssen in der Hand. Er will mir weitere für meine Kinder
geben, die ich nicht habe. Jetzt sagt er, sie kosten zwei Dinar pro
Tütchen. Ich sage, ich habe nur dreieinhalb. Er nimmt an. Dann
fragt er mich, wie viel ein Euro wert ist. Etwa anderthalb Dinar sage
ich, was nicht stimmt, es sind etwa zwei. Ich solle ihm anderthalb
für den Euro geben, den er mir zeigt. Ich gebe ihm einen Dinar
und hundert Mellem, die ich noch klein habe, also etwa 60 Cent
insgesamt. Er nimmt sie und bemerkt zwei Schritte später, dass
er zu wenig erhalten hat. Wir werden beschimpft und gehen. Ich freue
mich, dass der Handel doch noch halbwegs gut für mich abging.
Die Nüsse schmecken scheußlich. Ich werfe sie weg.
Am
Strand liegend beobachte ich andere Pauschaltouristen. Ein mehrfach
gepiercter und tätowierter Deutscher raucht eine
Filterzigarette. Er drückt sie neben sich im Sand aus. Dann
bedeckt er sie mit einem Häufchen Sand. Seine sehr gebräunte
Begleiterin löst dazu Kreuzworträtsel.
Das
Essen am Buffet ist fantastisch in reichhaltiger Auswahl.
Abends
sprechen wir über Wahrnehmung und individuelle Verantwortung in
sozialen Zusammenhängen. Danach blamiere ich mich beim Paartanz,
den sämtliche älteren Herrschaften äußerst
stilsicher beherrschen. Die Gigolos, die eigentlich Animateure sind,
sehen aus, wie man sie für ein Bilderbuch, das Kinder erklärt,
was Gigolos sind, malen würde.
Im
Speisesaal wird uns ein anderer Platz zugewiesen, als der, den wir
uns gewählt haben. Ich spüre mein Armband in den Blicken
der Kellner. Der Tisch, an den wir platziert werden, steht voller
gebrauchtem Geschirr. Wir warten, bis er wortlos abgeräumt und
neu eingedeckt wird. Andere Armbandträger sind renitenter: wir
beobachten, wie ein Mann angewiesen wird, sich nicht an den
Nachbartisch zu setzen, sondern in die hinterste Ecke. „Nein!“,
sagt er, setzt sich und hebt ab und an seinen Teller hoch, damit der
Kellner darunter eine neue Tischdecke legen kann. Zuletzt bekommt er
auch Besteck.
Noch
fragen wir in den verschiedenen Hotelbereichen nach, ob wir hier
etwas bekommen können, doch allmählich gehen wir souveräner
mit der Pauschale um.
Abends
huste ich Blut aus.
Ich
habe den Eindruck, alle Gäste sind hier übergewichtig. Ich
teile den Eindruck mit, mir wird ein liebevoller Blick auf meinen
Bauch beschieden. Das Frühstück ist wirklich sehr üppig.
Mittag und Abendessen auch.
Der
sogenannte Kamelmarkt in Sousse, den wir unbedingt sehen müssen,
stellt sich als Ramschmarkt heraus, der irgendwo in den früher
Achtzigerjahren in einer Zeitblase stecken geblieben ist, kurz bevor
Qualitätsware geliefert werden konnte.
Die
Medina von Sousse ist laut unserem Reiseführer ein Ort, an dem
man originale orientalische Lebensart erleben kann. Diese scheint zu
sein, Touristen in allen Sprachen so aufdringlich wie möglich zu
nötigen, etwas zu betrachten, um es ihnen zu verkaufen. Wird
werden unhöflich und arrogant und fühlen uns wie echte
Touristen.
Auch
in Sousse hängen die Bilder des Malers mit den unglaublich
vielen Freunden.
Wir
wollen mit einem TukTuk ins Hotel zurück fahren. Der Fahrer
unseres Transportgefährtes erklärt, dass wir noch warten
müssten, bis sechs Passagiere in unserer Richtung fahren wollen,
dann legt er sich wieder in das TukTuk eines Kollegen und schläft
weiter. Wir warten.
Ich
möchte ein Foto von meiner Frau mit Meer im Hintergrund machen.
Es stellt sich als schwierig dar, keine sonnenverbrannte Glatze oder
andere Touristenleiber in den Bildausschnitt zu bekommen. Darüber
werde ich gehässig und stelle fest, dass man hier nicht nur
fett, sondern auch alt ist.
Das
unaufhörlich am Pool für die faulenzenden Urlauber vor sich
hin dudelnde Unterhaltungsmusikmedley beinhaltet auch Bob Marleys
„Get up stand up – don't give up the fight.“
Spätabends
gehen wir am Strand spazieren, wollen uns auf eine Liege setzen.
Sofort kommt ein Strandwächter, fordert uns auf unsere Armbänder
vorzuzeigen, greift dann meinen Arm und erklärt, wenn wir unsere
Ruhe haben wollten, müssten wir uns auf eine Liege im
Strandbereich unseres Hotels setzen. Als wir seiner Aufforderung ohne
Disput Folge leisten wollen, erklärt er, wir dürften uns
ruhig wieder dort hinsetzen, von wo er uns eben verwiesen habe.
Diesen Sinneswandel erklären wir uns mit der Einsicht in die
offensichtliche Absurdität seiner Aufforderung, schließlich
ist der Strand menschenleer und nur er allein hat unsere „Ruhe“
gestört. Als wir später aufbrechen, hält er uns noch
einmal an. Er sei glücklich, uns kennengelernt zu haben und ob
wir einen Dinar für ihn hätten.
Frühmorgens
beginnt die Tagestour durch die Landeskultur. Unser Tourleiter begrüßt
uns auf deutsch und englisch, erklärt jeden Ort, jeden Hügel
und jeden Steinbruch auf der linken und rechten Seite erst auf
deutsch, dann auf englisch. Er bereitet uns auf jeden Programmpunkt
ausführlich vor, erst auf deutsch, dann auf englisch. Zwei
Stunden Busfahrt nach Karthago. Eine Stunde Aufenthalt. Eine Stunde
Busfahrt nach Sidi Bou Said, eine Stunde Aufenthalt. Zehn Minuten
Busfahrt in irgendein Restaurant, eine Stunde Massenspeisung. Vor der
Nachspeise flüchten wir aus dem stickigen Saal um dem Protokoll
zu entgehen. Dann eine Stunde Busfahrt zum Museum El Brado, eine
Stunde lang Führung, zu jedem Exponat erst deutsche, dann
englische Erläuterungen. Eine Viertelstunde Busfahrt nach Tunis,
eine Stunde Aufenthalt. Zwei Stunden Busfahrt zurück zum Hotel.
Ich erinnere mich an nichts, zum Glück habe ich Fotos gemacht.
Der
Frühstückskellner an der Saftpresse spielt mit seinen
Fingern, es fällt ihm offensichtlich schwer, die gewünschte
Figur herzustellen. Nachdem ich schon fünf Minuten seiner
umständlichen Verrichtung an den Apparaten und nun eine gefühlte
Ewigkeit seiner Pantomimenkunst zugesehen habe, nuschelt er: „Four.“
Ich antworte ihm, dass ich gern nur zwei Gläser hätte.
„Four“, wiederholt er, „you had four already.“
Ich verstehe ihn. Sein Gerechtigkeitssinn springt an, ich trinke zu
viel von dem Fruchtjogurt, den er herstellen muss. „No. I drink
two. It's for me and my wife“, rechtfertige ich mich.
Die
Russen am Nachbartisch verteidigen ihr schweres Omelette durch links
wie recht hingeworfene Drohblicke. Sonst wirken sie freudlos. Es muss
am Kater liegen, lästern wir.
Am
Nachmittag unternehmen wir einen Ausflug. Der Kameltreiber behandelt
uns wie einen Teil der Herde: händeklatschend werden wir auf die
Kamele, von den Kamelen runter, in die Töpferstube, zum
Brotbacken, auf die Kamele, von den Kamelen runter und zum Fotografen
getrieben. Die sichtlich ermatteten dicken Touristen bekommen
zwischendurch den Zuckerschock nach der ungewohnten körperlichen
Anstrengung verkauft. Unser Kamel versucht mich an den Agaven abzustreifen. Wir kaufen die Fotos, die man dabei von uns gemacht hat.
Abends
trinken wir Cocktails, die nach verschiedenen Sorten Zahnpasta
schmecken. Unser angetrunkenes Bewusstsein wird von der Animation
eingefangen. Fantasiereduzierte Choreografien zum Playback diverser
Musicalklassiker sollen beklatscht und bewertet werden. Amüsant
ist das zur Schau getragene Unvermögen. Gerade noch rechtzeitig
flüchten wir an den flutlichtbeschienenen Strand.
Die
Masse der Speisen am Frühstücksbuffet ermattet uns fast
wieder vollständig. Der Service lässt nach. Gibt man als
Pauschaltourist eigentlich Trinkgeld?
Der
traurig-vorwurfsvolle Bursche wedelt mit seinem Quittungsbüchlein.
Wir sind einfach so zum Segelfliegen gegangen, obwohl er doch jeden
einzelnen Tag zwei- bis dreimal auf uns eingeredet hat. Wir haben ihn
um seine Provision gebracht, das verstehen wir. Nachdem wir ihm zwei
Dinar geben, geht er.
Martini,
Fischsuppe, Thunfischsalat mit Äpfeln und Zwiebeln, Kapern,
Oliven, Tomatensalat, Tagliatelle mit Krabben an Tomatensauce,
Grillfisch, Pommes Frites, Rotwein, Buletten, Lasagne mit exzellenter
Béchamelsauce, dicke Bohnen, Pastetchen, Safranreis, noch ein
Stück Lasagne, frittierter Blumenkohl, Lammspitzen, Mousse au
Chocolat, Pudding, Honigmelone.
Dies
ist schon der dritte Abend hintereinander, an dem wir nach dem Essen
von der Minidisko eingefangen werden. Wir trinken Espresso, während
vor der Bühne unser Lieblingsanimateur tapfer lächelt. Er
klatscht sich rhythmisch auf die Oberschenkel, kreist mit den Händen
und formt dann „Schlafengehen“ unter beiden Seiten des
Kopfes. Die Musik spielt dazu: „Arabi arabi gulli gulli gulli
gulli gulli ram sam sam“. Fast singen wir mit.
Die
Karaoke danach unterbietet das Niveau des gestrigen Programms noch
einmal. Der Abendspaziergang wird von einem Hauch von Kloake umweht.
Nachdem
wir endlich die lokale Praxis der Trinkgeldgaben verstehen, wird uns
aus der Überdecke ein blumenbelegtes Ornament als Dankeschön
gefaltet.
Wie
eine Kaktusfrucht schmeckt, muss ich noch wissen. Ich lasse mir vom
Strandverkäufer, der wie ein Papagei klingt, zwei Früchte
aufschneiden und beiße hinein, dabei bricht ein Zahn ab.
Kakteen haben außen Stacheln und innen äußerst harte
Kerne.
Die
Dosis der Trinkgelder, die wir geben, scheint das obere Ende der
Skala erreicht zu haben. Noch bevor wir ausgetrunken haben, wird
nachgeschenkt.
Am
letzten Morgen vor unserer Abreise gehen wir ganz früh ans Meer.
Das Wasser ist ruhiger als sonst tagsüber und klar. Das hätten
wir öfter machen sollen.
Auf
dem Rückflug verweigern wir die Nahrungsaufnahme.
Zu
Hause angekommen, treffen wir Nachbarn im Treppenhaus. Angesichts
unseres Gepäcks und der für Mitte Oktober unüblichen
Gesichtsfarbe fragen sie: „Wart ihr im Urlaub?“ Wir
bejahen. „Und wie war's?“
War
schön.
Tod im Kino
Erschöpfung
trieb sie hinein. Eine Fluchtbewegung, die im weichen Dunkel vor der
großen Leinwand ihr vorläufiges Ziel findet. Es möge
ewig dauern. Beide hofften es. Jede Geschichte treibt ihrem Ende
entgegen, das Ende treibt sie wieder hinaus, hinein wo sie herkommen,
von wo sie flüchteten.
Lass
uns doch ins Kino gehen, Spätvorstellung. Sie schlug es vor,
damit das Schweigen ein Ende habe. Es hatte ihre Geschichte erzählt,
dieses Schweigen. Sie hatten das Gespräch mit Worten erschlagen,
dann die Unterhaltung mit Worten erstickt und zuletzt nach
Möglichkeiten gesucht, den Rest der Zeit wortlos zu entsorgen.
Den Rest des Wochendes. Den letzten Rest dieses Wochendes, das wie
jedes zweite Wochende den Rahmen ihrer Beziehung definierte: Anreise,
Umarmung, Nachtmahl, Umarmung, Schlaf, Umarmung, Frühstück,
Unternehmung, Umarmung, Gespräch, Unternehmung oder Nachtmahl,
Umarmung, Schlaf, Umarmung, Frühstück, Abschied. Zwei
Abende, zwei Nächte, ein Tag, zwei Morgen.
Die
Wochenenden wurden ihnen nie lang. Nie wich die angestaute Fremdheit,
nie war man tief genug im anderen, nie konnte man den anderen tief
genug in sich spüren, jedesmal brachte der nahende Abschied die
Verheißung des Entzuges. Immer lag in der seltenen Nähe
der Fernbeziehung ein Urlaubsglück, das die Sorgen der
Zwischenzeit zur Mitteilung herabstufte, keiner Angst und keiner
Traurigkeit eine Teilnahme einräumte. Sie wurden einander zu
Idealwesen, die zwar ein Leben hatten, aber nur die Liebe teilten,
für etwas anderes hatten sie keine Zeit. Sie waren einander zu
wichtig - die wenigen Momente, die sie teilen konnten, mit Alltag zu
belasten, darauf hatten sie keine Lust. Sie wollten gemeinsam etwas
erleben, sie wussten, dass sie einen Schatz der gemeinsamen
Erfahrungen anlegen mussten, von dem sie zehren konnten, über
den sie sich austauschen konnten: Einen Fundus der Erinnerungen statt
einer gemeinsamen Wohnung. Sie gingen zum Konzert dieser wunderbaren
schwedischen Elektropopband, die im nächsten Jahr schon in den
großen Hallen auftrat und im Radio gespielt wurde, sie
besuchten ein Livehörspiel in einem dunklen Wasserspeicher, das
außer ihnen nur noch zwei andere Zuhörer fand, sie tanzten
auf einer Waldlichtung zu Flöten- und Trommelcrossover. Sie
waren ein Raumschiff der romantischen Besonderheit. Sie landeten
dort, wo die Welt Neues erschuf, ihnen zu Ehren Verrücktheiten
probierte und sie in verschworene Kreise einlud. Nichts Sinnliches
war ihnen fremd, Neugier trieb sie zu phantastischer Vielfalt.
Im
zweiten Winter ihrer Übereinkunft änderte sich ihr
Bewegungstrieb, harmonisch verlangten sie nach ruhigerer Wärme
in kälterer Zeit. Sie wurde von Freunden eingeladen, nahmen die
Einladungen aber immer seltener an. Ihre Freundinnen waren ihm zu
intellektuell, mit seinen Freunden trank er immer so viel. Das machte
ihnen nichts, sie waren einander genug. War sie bei ihm, zündete
er viele Kerzen an, besorgte Badedüfte und kochte ganze Menüs
ihr zu gefallen. Waren er ihr Gast, trug sie ihm ihre Geschichten
vor, unterhielt ihn mit nachgespielten Erlebnissen, was ihn immer zum
Lachen brachte oder massierte ihn nach allen Arten, die sie in Kursen
gelernt hatte. Doch immer blieb noch Zeit übrig.
Zunächst
sprachen sie noch von Plänen, die man verwirklichen würde,
wenn es einmal anders war, denn ewig könne dieser Zustand nicht
dauern. Seine Frage, was denn an diesem Zustand nicht stimme,
überging sie noch. Anfangs blieb der Tonfall leicht, indem sie
über seine Gewohnheiten Scherze machte, die ihr auffielen, weil
sie nun mehr zu Hause waren, vielleicht lässt du dich ein
bisschen gehen, lachte sie und spielte mit seinen Hüften.
Ich
hatte noch so viel zu tun, entschuldigte er die Tatsache, das
Badezimmer nicht wie sonst immer geputzt zu haben, wie sonst
immer, lachte sie wieder, aber er wollte nicht in den Arm
genommen werden, ach hör doch auf, du weißt genau, dass
ich genug zu tun habe, da brauch ich sowas dann nicht auch noch.
Ist
schon gut, hat sie dann eingelenkt, und sie sprachen nicht mehr
darüber. Es war sehr einfach, über so etwas nicht zu
sprechen, schließlich war beiden klar, dass es nichts
bedeutete, so lange sie sich so sehr nach einander sehnten.
Heute
wäre Einweihungsfeier bei soundso, aber Du magst ja seine
Freundin nicht, ist so dahergesagt und doch schafft es den
Maßstab, dem ein Abend zu zweit genügen muss, sonst hätte
man genausogut hingehen können.
Du
gehst ja nicht gern ins Ballett, bedeutet immer noch weniger als,
wir können uns ja diesmal erst am Samstag treffen, Derundder hat
eine Karte fürs Bolschoi übrig und will mich mitnehmen, du
weißt ja, was mir das bedeutet. Was bedeutet eigentlich
diese Häufung des Wortes Ja in diesen Feststellungen? Setzt es
das Einverständnis des anderen in seine Fehlleistung vorraus?
Das
ist ja kein Vorwurf. Du könntest ja auch mal über Deinen
Schatten springen. Das habe ich ja die letzten Male auch schon.
Sie
waren sich einig, dass gerade die Freiheit in ihrer Beziehung die
Glut immer wieder erhielt, sie waren einander grenzenlos – ja,
was? Ergeben? Verfallen?
Jedem
Ingenieur, der einen Staudamm baut, ist klar, dass er einen Weg für
das Wasser kennen muss, wenn der Pegelstand nach langen starken
Regenfällen zu hoch steigt, er muss wissen, wie die Schleusen zu
erreichen sind, er muss kalkulieren, dass kein fruchtbares oder
bebautes Land überflutet wird.
Die
beiden hatten sich nicht mit Ingenieurwesen beschäftigt. Immer
mehr Rinnsäle nicht mehr ausgesprochener Worte wurden von den
prekären Stellen, den empfindlichen Zonen in ein großes
Schweigen geleitet. Da sie noch darin stehen konnten, beschlossen sie
immer wieder, darin auch zu essen, spazieren zu gehen, wenigstens
kurz oder miteinander zu schlafen. Dabei verdunstete immerhin
einiges. In diesem Dunst nebeneinander liegend hatte jedes Angst, was
es dem anderen vorschlagen konnte, was man heute noch tun wolle, noch
mehr Angst davor, dem anderen anzubieten, doch einfach hier zu
bleiben. Die Möglichkeiten der Gestaltung der längerwerdenden
Gesprächspausen hatten sich erschöpft und konnten mit
keinem geteilten Leben aufgefüllt werden, denn jedes hatte sein
eigenes, in dem es Dinge gab, die nicht preisgegeben werden sollten
oder bisher als ungenügend für gemeinsames Interesse
erachtet wurden; sie wateten in Vorschlägen, allesamt
aufgeweicht oder bereits aufgelöst. Das kleinste Wort genügte.
Immer mehr Du hast und Du hast und ich wollte ja und als ich dir
da hast du und immer weniger wir flutete große
Gebiete gemeinsam verlebter Zeit, hinterließ klebrigen Matsch.
Man hielt sich einander vor. Was dabei zu sehen war, gefiel
niemandem.
Lass
uns doch ins Kino gehen, Spätvorstellung. Da
war man schon verweint, da hatte man sich in den Arm genommen,
erschrocken und linkisch, das war man nicht gewöhnt. Ihnen fiel
einfach nichts dazu ein. Und beide waren erleichtert, müde schon
jetzt und würden hinterher noch müder sein und morgen hatte
man ja nur noch ein gemeinsames Frühstück, da ginge es
bestimmt schon wieder. Zuvorkommend und vorsichtig wollte jedes
dem anderen die Wahl des Filmes überlassen, leider, darin waren
sie sich einig und drückten sich aneinander, lief keine Komödie,
die sie beide noch nicht kannten, gute Komödien waren überhaupt
selten geworden.
Ich
will nicht das du dich opferst,
war vielleicht etwas stark als Erwiderung auf ihren Vorschlag, sie
würde sich den gern noch mal ansehen, der war ganz
gut. Sie sagte dazu nichts,
verbiss sich den Hinweis auf sein ewiges Pathos, er hatte es ja
sowieso bemerkt. Also einen Thriller, magst Du was trinken,
nein, Schokolade,die Werbung
lief, geeignet jedwessen Bewusstseinsaktivität so zu dimmen, den
Kopf quasi zu entleeren wie eine meditative Übung, dass der
Hauptfilm den freigewordenen Raum völlig ausfüllen konnte.
Das
Kino hatte es leicht, wenn die Behauptung gelang, der Leidensdruck
einer Figur sei so stark, dass er dafür töten würde,
zwangsläufig, unvermeidbar.
Ich
würde für Dich sterben, hatte sie ihn sagen hören,
aber, ich würde für Dich töten, ging wohl selbst ihm
zu weit. Im Film durchlitten zwei Liebende füreinander alles,
was zu ertragen war und mehr, sie starb, er war schwer gezeichnet,
vielleicht todgeweiht, als der Abspann einsetzte. Glücklich
erschaudernd, das Schicksal ihrer Stellvertreter auf der Leinwand
nicht teilen zu müssen, fanden sie Gesprächsstoff.
Das
hätte ich nicht, und soso, du würdest also nicht für
mich, und das könnte ja auch uns nicht, und das
fand ich schon stark übertrieben, aber langweilig war es
nicht, und guck mal, den können wir dann ja das nächste
Mal zusammen ansehen.
Der
Tod im Kino ist eine Erlösung.
Tageweise
Tier
Ich
ist einsam. Ich tut zwar was dagegen, es ist nicht so, dass Ich sich
nicht mitteilen würde, aber Ich gibt es auch schnell wieder auf.
Ich ist eitel, aber Ich will nicht reden, um dann wieder nur Ich zu
hören, Ich will reden, um gehört zu werden und auch mal
etwas anderes zu hören als Ich.
Täglich
geht er den zerfallenden Körper pflegen. Nicht dass er schon so
alt wäre, dass es nur noch schmerzt, aber er sieht ihm an, dass
er zerfällt, im Gesicht sieht er es. Ich steht wohl, wie man
sagt, auf der Höhe seiner Kraft. Ich raucht, er hört an
seinem Atem, wie lange er schon so viel raucht, jetzt fast die Hälfte
seiner Zeit. Ich trinkt Alkohol, nicht viel, aber regelmäßig.
Ich hat Angst, dass es so bleibt. Dass Ich so bleibt.
Mädchen,
denkt Ich, es ist dir egal, dass es ihm egal ist, in welche er seinen
Schwanz reinhält heute, Ich weiß es. Ich kann es nicht
sein, es ist ihm die Mühe nicht wert oder er weiß nicht
wie und es ist Ich leider nicht egal, was aus deinem Kopf rauskommt.
Ich
dachte heute, dass einige so hart geradeaus sind, dass sie sich nicht
mit sich denken, nur immer gegen - sie wollen sich andere
Möglichkeiten nicht vorstellen, sondern unzufrieden sein und das
auch zeigen, aber weitergehen, als könnten sie nicht anders. Ich
kann auch nicht anders und Ich weiß: wer will das also wissen.
Wenn er unter Leuten ist, muss er sich viel Mühe geben, gehört
zu werden, bis er schon denkt und fühlt, er sei anscheinend
langweilig, weil seine Geschichten nicht so laut sind. Hinterher
wundert er sich, wieder so viel geredet zu haben. Sag was, etwas Ich
hören möchte, etwas anderes, als was er schon kennt, nicht
die Geschichten, die vor allem obszön sind, weil ein anderer so
ein Hengst oder so blöd oder eine Sau oder sonstwie arm ist. Ich
kennt das schon wie Geräusch aus Körperöffnungen.
Überall Akteure. Nichts geschieht. Und dann wird es ihm
langweilig, denn ihm fallen nichts als wahre Geschichten ein und die
sind seltener spannend als wahr. Als sperriges Tier fällt Ich
Gespräch so schwer. Ist es der Ort oder sind es die Regeln, nach
denen hier verhandelt wird. Ich kennt die Dumpfheit der Abreaktion,
der Erwartungshaltung an Gesellschaft, Tanz und Kneipentisch, auch
die andere Seite, unter denen, die nicht dumpf sein wollen, laut
trotzdem sind, dort, wo unter viel Spiel alle nicht
durchsetzungswillige Sprache ungehört bis unausgesprochen
bleibt. Dafür wäre auch die Musik meist zu laut. Ich weiß
nicht, ob Ich das wiederholen kann. Er stellt sich an den Rand der
Fläche und flüchtet vor so vielen Unmöglichkeiten auf
die Inseln der Vertrautheit, dort rastlos. Hat er denn vielleicht
nichts zu sagen, ist von dem vielen Ausfluss so wenig hängen
geblieben, das den Austausch notwendig oder für andere wertvoll
macht. Lass uns mal später drüber quatschen. Der
Kühlschrank bietet nur karge Abwechslung. Oft hat Ich nur
Hunger, kein Egoproblem.
Ich
schläft, so lang er kann - oder darf, wenn er arbeitet. Und dann
isst Ich und liest in der Zeitung und da steht auch nichts Neues drin
und dann kauft er vielleicht was ein oder schläft ein bisschen
oder rennt durch die Gegend oder wenn die Sonne scheint mit einem
Buch zu einem Kaffee. Ich mag keine Korsetts, Ich kann auch nicht
ohne. Ich isst und arbeitet wieder und dann ist das alles wieder
nichts Neues, nicht sehr anregend, dann trinkt Ich vielleicht noch
ein Bier oder schaut Fussball oder geht mit einem Buch ins Bett oder
muß telefonieren, denn es gibt nur einen einzigen Menschen, der
Ich nicht einsam sein lässt, aber telefonieren hilft auch nicht
oder Ich geht noch ins Kino oder holt einen Film aus der Verleihe,
aber es deprimiert Ich, wie oft er schon vor den Regalen stand und
auf Hüllen geguckt hat, um damit vor der Glotze zu liegen und es
dröhnt, Ich dröhnt, lesen ist schon besser, aber das kann
man ja nicht immer. Dann wichst Ich sich einen, denn der eine Mensch
ist nicht da und er ist auf der Höhe seiner Kraft und dieses
Abschleppen macht Ich traurig, dass er es nicht kann und nicht der
Typ dafür ist, obwohl er seinen Körper pflegt und Wäsche
kauft und nicht so hässlich ist und auch mal charmant sein kann
oder tanzt, bis er die Augen zumacht und andere Augen einfach nicht
sieht, aber wenn er es sieht, ekelt es Ich und wenn oben nicht
Interessantes rauskommt, will er unten auch nichts reinstecken, wenn
Ich es sich selber machen kann, es sich ganz direkt und alle nach
seinem Willen besorgen kann und fertig; und er hört seinen Atem
und ist traurig, so dass er manchmal davon Kopfschmerzen hat, denn
Ich weint sehr selten, aber schläft schon ein und am nächsten
Morgen hätte er am liebsten nur richtig Zeit fürs
Frühstück, da hat er seine Ruhe und die Angst ist noch
nicht überall hineingekrochen und Ich kann einfach lesen und
essen und Kaffee trinken. Der Tag kommt und geht und Ich ist einsam.
Voller Angst, dass es einfach so sein wird - immer.
Es
ist diese Art Promiskuität, die Ich quält: Zum Eiskaffee in
den allerallerletzten Zügen des Sommers, der schon wie Herbst
riecht und abends wie Herbst abkühlt, sitzt dort das Mädchen,
das er von früher kennt, er ist der Treppenwitzerzähler,
fällt ihm später ein, denn Ich denkt nur, wie stelle Ich es
an, dass Ich diese Traumfrau einmal genießen darf, ihre Form so
vollendet, rund, sehr, fraulich und sie erkennt Ich und er lächelt
und sie. Dann hört sie eine Stunde lang diesem langweiligen Mann
zu, der aus dem Mund stinkt, Ich weiß das, hat ihm schon öfter
höflichkeitshalber zuhören müssen, er stinkt und ist
langweilig, und sie hat noch eine Freundin bei sich, auch sehr
hübsch, und sie gehen und der Eiskaffee wird kalt und sie sehen
Ich nicht noch mal an beim gehen, nur ein kleines Stück rund zu
ergattern, und „Ich möchte bitte mit dir schlafen“
ist kein besonders guter Treppenwitz. Und vorbei, aber Ich kommt
schneller drüber hinweg, er kennt das ja schon längst, sie
gehen, der Eiskaffee ist kalt und ihm und später geht er ins
Kino. Dort, ungelogen, sitzt nur noch ein anderer Mensch, ein
Mädchen, hübsch, schon wieder. Seine Augen sind
unbestechlich, und die Stimme hübsch, seine Ohren sind
unbestechlich, und sie freut sich, dass sie nicht ganz allein im Kino
sitzt, und im Film wird gevögelt, schön sogar, anregend,
denkt Ich, sogar für sie bestimmt anregend, Zelluloid nur, und
niemand setzt sich gleich und später auch nicht zu ihr und kein
Körper spricht und hinterher strahlt sie gleich, was für
ein schöner Film, und er käme wohl nicht von hier und sie
hätte Ich gestern schon gesehen.
Ihr
Fahrrad wurde geklaut, deshalb ist sie immer mit dem Auto, das jetzt
nicht auf einem gemeinsamen Weg parkt und die Stimme sitzt tief, als
er ihr noch eine gute Nacht wünscht, schmunzelnd, er ist nicht
geübt darin, schnell irgend etwas zu sagen, kann Ich dich dann
vielleicht begleiten, komm doch noch mit zu - nichts. Er legt nichts
an, ist einverstanden und nur sehr unrasiert und sie war hübsch
und vorbei.
Sagte
mal jemand, wenn die Runde der potentiellen Geschlechtspartner
kleiner wird, erhöhen sich die Flirtchancen und Ich allein mit
einem Mädchen im Kino im Film, in dem gefickt wird und er ist
nur unrasiert und geht mit seiner tiefen Stimme allein nach Hause.
Morgen ist Ich rasiert, aber sowas passiert sowieso nie wieder so
bilderbuchmäßig. Es dauert wieder lange, bis er sich doch
überwindet das Licht auszumachen und schläft, aber vorher
noch Zigaretten rauchen muß und nichts lesen kann.
Er
ist geil zwischendurch und macht sich nichts draus, lässt es
raus, den fleischigen Gedanken forcierend, wie Ich anscheinend nur
diesen so kraftvoll zu zwingen oder nutzen kann. Leicht, drangvoll,
spüren, sich, wen anders. Da sind auch Stimmen in der Stadt, die
solcherart Dinge über sich selbst und andere erzählen: Wir
kennen uns zu wenig, als dass Ich so genau von des anderen Säften
wissen will, es ekelt Ich an. Um es ihm egal sein zu lassen, ist er
zu wenig zu diesem Spiel fähig, nicht zynisch und nicht grob
genug, dazu sich noch mitzuteilen zu verschlossen, denn zu wessen
Ohren spricht man da, der einem Fremden und noch mehreren Fremden so
viel mitteilt, ohne dass das etwas bedeutet. Wie kann die Sache denn
etwas bedeuten, und wenn noch so viel ich und Liebe drin vorkommt.
Ich kann nicht verhandeln, ob man nach dem Ficken liegen bleiben
sollte, oder verschwinden und nicht Zettel kommentieren, die darob
hinterlassen wurden. Nähe sieht anders aus, findet er, als dass
sie in diesen Portionen zum Gespräch feilgeboten würde. Es
lohnte nicht die Polemik, ja, aber welche Fragen möchte Ich
hören, welche stellen. Was möchtest du tun. Dann tu so und
finde heraus, was diese Sache für eure Zweisamkeit bedeutet. Das
ist gut, lass uns doch später noch mal drüber labern. Ich
definiert Ratschläge um seinen Ärger und Ekel herum. Darauf
ist er nicht geil. Dem Fernsehen nimmt er ein rituelles Stück
Kurzweil ab, Fußball wird gespielt, sein Verein sogar, sie
gewinnen, wie nett.
Das
Mädchen aus dem Kino, das jetzt einen Namen hat, hat
nachgeforscht und meine Nummer herausgefunden. Sie ruft an, sie
schreibt Mitteilungen mit dem Telefon, sie spricht mit meinem
Anrufbeantworter, weil sie nur noch mal hören möchte, wie
Ich darauf meinen Namen sagt. Romanze, Prickeln im Bauch, Pinsel auf
dem Bauch, Möglichkeiten und eine erweckte Phantasie, meiner
Stimme wegen, schließlich trug Ich Bart.
Es
ist eine Entscheidung, denn schließlich hat seine Eine den
Hintern der Welt und sie hat ihn für Ich und sie liebt seine
Geilheit und für das viele mehr entscheidet er sich, wenn er
andere Ärsche dann in Ruhe lässt. Allein Lust wäre da,
und Phantasie, sich alles vorzustellen. Kann denn Wirklichkeit dem
genügen. Ein Konstrukt, das, um das andere nicht zu gefährden,
sich schon zeitlich räumliche und emotionale Grenzen mitdenkt,
für den kurzen sehr aufregenden Kick. Dazu die Forderung der
Phantasie, die des Mädchens und seine, die ja nur leben kann,
wenn da keine Grenzen sind. Ich will das haben. Ich hat Angst, nicht
genug zu bekommen. Dann muss er das verheimlichen. Denn er hat Angst,
seine Eine dadurch zu verlieren. Die gleiche Furcht trägt
unterschiedliche Kostüme. Was ist Genuß. Was eine Affäre.
Und was ist seine Stimme, wenn die Worte von ihr geformt so nüchtern
sein können. Romantik und Berechnung. Der Sarkasmus, der in der
Beschreibung von biochemischen Prozessen wohnt. Ich will erleben,
aber Freundschaft kann scheitern, Liebe scheitern, Vertrautheit
weichen, kalt und leer werden - es gibt Konsequenzen, die nicht mit
Momenten gewogen werden können.
Wo
ist Ich denn hier oder vielmehr wer, ein kultivierter Kuhscheiß,
Chinakohlsuppenesser, Amateur, katholischer Kanalklappenreiniger. Ich
ist nur zu Gast hier. Leben wollte Ich hier nicht auf Dauer. Ich will
doch keine Romanze.
Das
Ehrlichste zu sich selbst ist die Zwiesprache mit dem kleinen
Konsumenten in Ich:
Brot,
Käse, Flaschensaft und Most und Rauch und Ausschank,
Musik
und Pornografie, Hollywood, Geschwätz und Bewirtung,
Literatur
und Zeitung.
Das
Mädchen das einen Namen hatte, könnte nichts bekommen, was
nicht einer anderen gehörte, außer Körper und
Freundschaft, wahrscheinlich befristet. Sie hat Ich zu ihrer
Arbeitsstelle mitgenommen, hinterher am späten Nachmittag bevor
sie zum Zahnarzt ging. Was ist unverbindlich. Nur Massage und Schach,
keine Liebe. Es war eine Volksbank. Was bedeutet liebevoll. Phantasie
eines zuviel. Ein mehr als genug reicht.
Herbstzeitlosen
und Echtzeitentfernung. Autotüren schlagen zu, ein Karussell
schlägt sich auf in einem Leerraum neben dem Märchenbrunnen,
der wirklich so heißt, in seiner Dekoration mit
Wasserfangbecken für Hände und Füße schwimmen
Plastikreste. Wieder ein anderer Stand: Glühwein, Gebratenes,
Mützen Socken Schals. Vielbefahrene Ortsdurchführung.
Regen, Wind, und die Frage des Kollegen, ob Ich auch schlecht gelaunt
sei. Nicht wirklich übellaunig. Nur mein Spiel, mein Gesicht.
Im
Stadtbild
Viele
Wege nach Hause zu kommen gibt es ja nicht. Ich freu' mich jedenfalls
immer, wenn es etwas anders aussieht, so zaghaft, wie die Blüte
eines Menschen im Stadtbild sein kann und, na klar, so roh, wenn die
großen Maschinen kommen. Aber der kleine Eingriff als Ausdruck
des einen, beispielsweise, das Schild über dem taiwanesischen
Restaurant, das sieht einer doch, da will einer mal etwas anders
machen, was meistens nicht ganz gelingt, es ist ja auch für alle
gemacht. Das ist oft interessanter als das, was viele machen, immer
noch im Stadtbild, Drogeriemärkte oder nebenan das Büro für
vier oder sieben mit Kopierapparat oder überhaupt Läden für
Kopien und Telefone und billige Kleidung, beispielsweise.
Vor
Zeiten hab ich im Erdgeschoss gewohnt, unter Jürgen und Annemi
oder Annemi und Jürgen. Nach mir zog dann ein Architekt mit
seinem Büro ins Erdgeschoss, dichte horizontale Jalousien
schützen jetzt vor dem Blick hinein, andersrum hinaus auch,
natürlich, denke ich mir, denn so hab ich es auch gehandhabt,
als ich dort noch gewohnt hab, nur dass ich eine Gardine benutzt
habe, durch die ich alles sehen konnte, was vorm Fenster stattfand,
außer nachts. Mit einer Zeitschaltuhr konnte man einstellen,
wann die Markise hoch- und runterfahren sollte, funktionierte
fabelhaft als Wecker, für Ohren und Augen gleichermaßen.
Jürgen
und Annemi. Arbeiter einst, Tabakfabrik, sowohl als auch, Flure
putzen. Jürgen trank aus kleinen Flaschen. Annemi war immer
große Bewegung.
Hinten
der Ausblick romantisches Neukölln. Eine Schaukel, den ganzen
Tag Sonne, ein Parkplatz, der nicht so groß ist, der Aldi nur
drei Schritte entfernt, Kopfsteinpflaster, keine Balkone, Erker
höchstens. „Zum Eck“ in den Deutschland- bzw.
Schultheißfarben. Am Wochenende Markt gleich nebenan.
Vielgeschlechtlich
veranlagt er, verborgen in fuffzig, naja, siebzig Quadrat Ehe über
die Zeit. Durch und durch. Eigen, lieb, unbeweglich, voller Angst
beide. Darin wie alle, aber ausgeprägt.
Im
Vierten der Professor vom Goetheinstitut mit seiner schönen
jüngeren, größer als er gewachsenen Ukrainerin.
Zwischendurch war unser Haus Quartier für den Besuch der
Ortsälteren ihrer Heimat - mit Stadtführung, Schwoof und
Kulturaustausch, da haben wir nachts gesessen und Wodka getrunken und
mit Gitarre und Quetsche musiziert, spät nachts; morgens früh
fuhren sie, nachdem sie tatsächlich wieder Wodka tranken. Der
lange Treck nach Westen, der sein Ziel wohl nie endgültig
findet.
Im
dritten die alte Dame, deren Radio wir in der Küche hören
konnten, während wir nächtelang saßen und redeten.
Mit Rainer.
Rainer
liebte Annemi und Jürgen und er hatte recht damit. Schließlich
liebten sie ihn auch, solange er da war, und deshalb lachte Rainer,
wenn er mit ihnen war, und redete so, dass sie verstanden, er redete
einfach weiter und das klappte gut, denn er war geübt darin,
über Dinge zu sprechen, von denen er wusste, wie sie waren und
er wusste schließlich schon sehr viel und deshalb stimmte das
auch alles so, wie er es sagte. Hauptsache wir wussten es und konnten
darüber lachen, dass die Dinge so waren und so vieles daran
nicht stimmte und wir deshalb noch mehr darüber lachen mussten
und dazu tranken wir und Jürgen mochte schließlich Fußball
und Annemi mochte uns und liebte es, den Kopf über Rainer zu
schütteln, wenn er so redete.
Hat
auch keiner was gesagt, wie wir die große Party mit den zwei
Fünfzigliterfässern gefeiert haben. Eins war hinterher noch
fast halb voll, zuerst hat er sich nicht getraut, aber nachdem wir
ihm dann ein bisschen gut zugeredet hatten, kam Jürgen auch
immer runter, um sich noch mal een Kleenet zapfen zu lassen.
Zwischendurch ne Büchse genommen, dass es nicht so auffällig
wird.
Sonst
waren wir ja nur ab und zu bei ihnen oben und noch seltener waren sie
bei uns unten. Im Sommer wurde neben den Mülltonnen gegrillt,
dann sind auch die Nachbarn mal da gewesen, obwohl sie eigentlich
nicht vorkommen, aber Jürgen und Annemi waren ja immer mit sich
und beschäftigt - na klar - es gibt ne Menge zu tun im Haushalt,
der mit Akkuratesse betrieben wird, aber soviel nun auch wieder
nicht, der Fernseher war ja auch noch da, Talkshows nachmittags. Ich
weiß nicht, was sonntags. In der Woche mal zu Stellen an denen
man muss, außer einkaufen jetzt und zum Arzt natürlich,
Annemi vor allem, mit so viel Körper hat man natürlich noch
mehr Körper. Jürgen liebte sie wirklich und eben auch Jungs
und das zu Hause, was anderes wusste er wohl nicht, irgendwann muss
es ja mal rauskommen.
Bier
und Fernsehn, Bauch und Falten werden Verzweiflung. Wird verhasste
Alternative zur einstigen Sorge, denn akkurat ist er eigentlich ja
noch und es ist schwer zu sagen „Is doch ejal. Wir rejen uns
doch da nisch weiter uff. Was soll mer denn jetz verrück machn
wejen den.“ Annemi hätte das sonst immer gesagt, aber
grade nicht. Das biss in ihr und ließ nicht los, sie wusste
nicht, wie damit umgehen, sie wusste dazu gar nichts, nur das man so
wat eben einfach nisch macht und schon eigentlich erst recht nicht
mit ihr. Und da muss sie jetzt da mit leben.
Ich
hab' mich hinter dem Schaufenster den Flur entlang an der Wand in der
Küche sitzend gefragt, was ich an- oder darbieten könnte
oder aus- oder darstellen. Meine sonderbare Existenz, unter Jürgen
in Annemi oder Annemi in Jürgen in einem ehemaligen
Arbeiterviertel in Neukölln.
Eigentlich
folgerichtig bezieht ein Architekt meine ehemalige
Schaufensterwohnung, blickdicht. Ich wenigstens habe damals bestimmt
sieben verschiedene Bilder reingehängt, ins Stadtbild.
Berühmtheit
Als
der Laden leer blieb, während auf der Straße die ihren
Körper anbietenden Mädchen mit ihren angemalten
Puppengesichtern frierend auf Freier warteten, suchte der junge Mann
hier nach Tanz und Zerstreuung mit dem Hintergedanken,
öffentlichkeitswirksam zu sein als Ein-Mann-Betrieb. Ich fragte
meinen einzigen Gast, was er denn trinken wolle, worauf er aus sei.
Er nahm ein Bier, es war das einzige, was ich an diesem Abend
verkaufte und ließ es, als er wenige Minuten später ging,
um eine Toilette zu suchen, die wir nicht haben, weil wir ein
Kunstraum mit Ausschank aber keine Kneipe sind, auf dem Tresen
stehen, zu zwei Dritteln voll und kam nicht wieder. Er sei, erzählte
er auf mein Nachfragen, von München nach Berlin gekommen, um
hier Managern Beratungen zu geben, die ihr erfolgheischendes
Auftreten mit seiner Hilfe eindrucksvoller machen sollten, ein
Unternehmerberater also, personal consultant zu neudeutsch. Wie sie
sich hielten, wie sie sprächen, wie sie auf Geschäftspartner
wirken könnten würden er ihnen beibringen. Und jetzt wolle
er tanzen. Zweifellos war er überzeugt von seiner Sache und dem
Markt, der hier entstünde, wie er von erfahrenen Kollegen aus
München wisse, die herkämen, wenn sie könnten. Das
boomt doch hier. Gekleidet war er wie ein Bub der achtziger Jahre:
Lackschuh, Weste, Zweireiher, in den Schultern zu weit, alles
schwarz, weißes Hemd, blonder Mittelscheitel. Im P1, ob ich das
kenne, würde man Schampanjerflaschen köpfen bis die Leute
sich fragten, wer wäre denn das, der da so feiern kann, dann
stünde man in der Bild, und am letzten Sonntag hat er
Schampanjerflschen geköpft im Felix am Adlon und stand in der
B.Z.. Wozu das, fragte ich. Damit die Leute seinen Namen läsen,
ihn googelten und dann auf seine HP geleitet würden. Büro
hätte er schon. Dann würde er ihnen zeigen, wie man richtig
was hermacht und richtig Erfolg hat. Er sei ja neu hier und im
Neunziggrad und im Kuhdorf war er schon, da ist er wahrscheinlich
nicht berühmt geworden. Und ich fragte mich, wie der lispelnde
Bub mit den überhaupt nicht angesagten Klamotten, der hohen
Stimme, der schlechten Haltung und den fahrigen Bewegungen wohl
erwachsenen Zynikern zu einem wohlgefälligen Auftritt verhelfen
will, wo ihn schon die leichten Mädchen mit dem harten Berliner
Zungenschlag nicht weiter beachteten als er ging, auf der Suche nach
der Sensation, die er einst sein würde in der großen
fremden Stadt.
Übertretung
„ Kann
ich bitte Boleslav sprechen?“
„ Boleslav?
Was? Wer?“
Sie
klingt genervt, ich störe sie. Es quakt und nörgelt und
tropft aus dem Hörer.
„ Ja,
Boleslav, bitte.“
Es
ist dringend, Baby, jetzt reiß' Dich zusammen und mach.
Ich
kann den Warmwasserhahn nicht finden.
„ Was?
Ach nee.“
Herablassend
das. Arrogantes Miststück, wahrscheinlich sieht sie auch noch
gut aus mit langen ungekämmten Haaren überm
Männerunterhemd. Zierlich, attraktiv, und das weiß sie.
„ Kannst
du nicht in 'ner halben Stunde nochmal anrufen?“
„ In
ner halben Stunde? Scheiße verdammte Scheiße kann ich
nicht. Ich träume, verdammt! Ich kann nicht wieder anrufen!“
Ich knalle den Duschkopf auf die Gabel. Nasszelle.
Die Tür wird aufgerissen, Zähne kommen mir entgegen, ein
Brechscherengebiss. Wann war ich zuletzt glücklich? Wenigstens
froh. Oder zufrieden.
„ Stell
Dich wieder zu den anderen!“
Ich
muss gehorchen. Die Narben an unseren Körpern bilden rosa
leuchtende Muster. Kreuzstich. Wir müssen etwas tun, stehen hier
wie auf dem Präsentierteller, gleich werden wir geopfert.
Dahinter tobt der Krieg, wie immer. Dies sind die Heerführer,
die Herren, aber es sind Tiere. In ihren Augen steht die Gier, ihre
Haltung zeigt, dass sie sich unserer gewiss sein können. Wir
werden gar nichts tun, nur Angst haben bis zum Schluss.
StrgZ.
Ich wache mit diesem Befehl im Kopf auf. Ich weiß nicht was er
bedeutet, ich benutze kaum Tastaturbefehle. Ich probiere ihn
aus. Rückgängig. Er bedeutet, einen Schritt rückgängig
machen. Welchen?
Die
Hunde also, es sind die Hunde. Immer wenn sie mich so von unten
angeschaut haben, habe ich schnell weggesehen. Dieser wässrig
traurige Blick.
„ Findest
du auch, dass Hunde immer so traurig gucken?“
„ Wie
bitte?“
„ Die
Hunde. Findest Du auch, dass ... Vergiss es.“
Jetzt
weiß ich. Womit habe ich diese Schutzengel verdient. Ich hab
sie nicht einmal bemerkt, von Dankbarkeit nicht zu reden. Müssen
ausbaden, dass ich willenlos treibe, der geilen Not ergeben. Sie
spüren dabei nichts. Nicht einmal Mitleid. Nicht mit meinem
Bewusstsein, dass sie verachten oder bedauern könnten, nicht mal
das. Jetzt tun sie mir leid. Soviele. Was für ein Job.
In
den Eingeweiden ist der Bass zuerst zu spüren. Der Türsteher
prüft einmal von oben nach unten mein Erscheinungsbild und
zeigt, indem er seine Masse ein wenig dreht, dass ich passieren darf.
Durch die Läden treiben. Jedes Wochenende wieder. Diverse
Barkeeper kennen mich schon, servieren mir heiße Milch mit
Honig und Absinth. Ich trinke das nicht, weil Absinth so besonders
berauschend ist, sondern weil es mir schmeckt. Heiß, sahnig,
süß, bitter. Ich beobachte die Körper und male mir
Dialoge aus. Eine von denen wird darauf anspringen, wie immer. Eine
werde ich heute nacht ficken wie immer. Komm her, kleiner Fisch.
Schüttel dein Fleisch. Die Hookline muss funktionieren, einen
Haken in ihre Aufmerksamkeit schlagen. Hier, guck mal, das bin ich,
hör mir zu, du glaubst, was ich dir erzähle.
Absinth wirkt, jaja, das ist geheimnisvoll und ihm zu Ehren sind
ganze Bücher geschrieben worden. Du siehst gut aus. Lass
uns gehen. Ich finde diese Läden weder ausgesprochen
eindrucksvoll oder einfallsreich ausgestattet, noch bedeutet mir die
Musik etwas. Das ist ja Plastik, so durchschaubar darauf berechnet zu
funktionieren ohne etwas zu bedeuten. Früher war das Kunst.
Früher, in meinem Kopf klingt es alt. Noch geht es. Was redest
du denn da? Was? Nichts. Sie setzt sich zu mir. Was trinkst du denn
da. Bist du öfter hier. Na klar. Und du?
Ein
Haufen Spezialeffekte ist gar nicht nötig, auch wenn man sich
die Verwandlung immer so vorgestellt hat. Sie sind einfach da, stehen
vor dir und du erkennst sie wieder. Emmi, Köter, Gutmut, Gregor
und Sheriff. Ich kenne sogar ihre Namen.
„ Hör
zu jetzt. Hörst du zu?“
„ Du
wirst dich um Marina kümmern.“
„ Marina,
hörst du.“
Ich
nicke. So aufmerksam bin ich nie gewesen.
„ Du
wirst ihr zweimal täglich begegnen. Morgens, wenn sie zur
Straßenbahn hetzt, weil sie immer spät dran ist...“
„ Sie
arbeitet.“
„ Jaja,sie
arbeitet. Und spätabends, wenn sie zurückkommt.“
„ Sie
ist immer so müde.“
„ Und
du passt auf sie auf. Verstanden?“
Ich
nicke wieder.
„ Du
heißt Jockel“, sagt Gutmut
teilnahmsvoll, „schöner Name.“
„ Wegen
der Sache, weißt du. War nichts zu machen.“
Er
guckt sich um. Ich sehe es auch.
„ Du
bist da selber schuld. Nichts für Ungut.“
Ich
nicke ein drittes Mal. Sie sind verschwunden. Ich bin völlig
durchnässt. Stehe im Hausflur und schüttele mich.
Ist
das wirklich alles so vorhersehbar? Sie war schon etwas betrunken.
Hat Vor- und Nachteile. Hat beides damit zu tun, dass sie dann so
passiv werden. Ich lege den Arm um ihre sehr schlanke Taille und
greife um die Hüfte ans Becken, leckerer Knochen. Wir stehen auf
der Straße und ich nehme ihr Kinn zwischen die Finger, drehe
ihr Gesicht zu mir und lecke ihre Lippen. Sie lässt es
geschehen. Kleine feste Brüste zeichen sich deutlich unterm
Shirt ab. Süßes Punkmädchen.
Komm kleiner Arsch.
Ein
scharfes Ziehen unterm Rippenbogen, ich sacke zusammen, eine
Lederjacke fängt mich auf, zischt: „Die ist nicht für
dich. Verzieh dich.“ Er lässt los und im Fallen sehe ich
ein großes B, ein Anhänger aus Gold auf seiner Brust. Er
muss etwas getroffen haben, wahrscheinlich wollte er gar nicht so
tief zustechen.
Frauchen
kommt, legt mir die Leine um den Hals.
„ Du
bist ja ganz nass. Wo bist du denn wieder gewesen?“
Ich
wedele mit dem Schwanz. Ich muss mich um Marina kümmern.
Übertretung wurde 2008 in Belletristik 06, Magazin des Verlagshauses J.Frank Berlin veröffentlicht.
Unter Dingen
Unter
den Dingen, die auftauchen, wenn ich meinen Schreibtisch aufräume,
befindet sich Seltsames: Dinge, die mich seltsam berühren. Da
finde ich eine Postkarte meiner Liebsten, auf der sie uns gezeichnet
hat, am Strand vor einem Leuchtturm und um uns herum schwirren Noten
und ich habe eine Gitarre in der Hand und sie einen Fotoapparat. Und
ich nehme sie in die Hand und sehe das Leben in den Noten und fühle
so sehr, wie ich sie liebe, meine Liebe. So selten vermag ich es zu
sagen. So aus einer Karte heraus, auf deren Vorderseite ein
Sinnspruch von Rainer Maria Rilke zu lesen ist, die Liebe bestehe
darin, dass zwei Einsame sich beschützen und berühren. So
etwas hat sie mir geschickt und ich finde noch heute, wie
überraschend das ist, von ihr so eine Postkarte mit so einem
Spruch geschickt zu bekommen.
So
liegt auf dem Schreibtisch auch eine Haarnadel, wohl schon lange
unter unbewegtem Papier.
Im
Supermarkt flog mir gestern ein Rudiment eines Geruchs in die Nase,
der mich in Sekundenbruchteilen in die Kindheit zurückwarf, so
wohl hab ich mich darin gefühlt, dass ich zu schnüffeln
begann. Ein Duft nach Mutters Küche und Dorfgarten und
Unbeschwertheit von Dingen, die kommen, die müssen, unbeschwert
von all dem was ich heute weiß, wie es gekommen ist, voller
Möglichkeit, um die ich mich nicht geschert habe.
Und
ich werde versuchen, zu lassen, dem wieder nachzujagen, Momente
imitierend, die mich damals glücklich machten wie heute,
versuche nur, darin heute keine Zukunft zu erkennen, sie daraus zu
erkämpfen, daraus ein werdendes ich zu erhoffen, sie nur als
Dinge, Momente zu nehmen, die mich einen Moment lang glücklich
machen wie damals.
In
den Papieren befinden sich auch Notizen zu Kontakten und möglichen
Orten der Arbeit, zu denen man heute Projekte sagt, die ich nie
wieder betrachtet habe, weder Ort noch Möglichkeit also
aufgesucht habe um Kontakt oder Arbeit daraus werden zu lassen. Unter
den Dingen, die aus meinem Schreibtisch auf die Oberfläche
meines Bewusstseins auftauchen, wenn ich ihn aufräume, befindet
sich so viel vergangene Zukunft.
Verkündigung
Heute
kommt das Fernsehen. Das war sein erster Gedanke, nachdem er den
Wecker abgestellt hatte. Er blinzelt gegen die bräunlich-orangenen
Gardinen, die seine Frau gleich aufziehen würde. Er würde
heute wie an jedem Tag zur Arbeit gehen. Er suchte sich einen
mittelgrauen Anzug heraus, dazu ein hellblaues Hemd und einen
rotsilbrig gestreiften Binder. Er achtete darauf, frisch aus der
Reinigung gekommene Kleidung zu greifen. Er ging die Situation zum
x-ten Mal im Kopf durch, so wie sie die Assistentin des Senders
geschildert hatte: Er würde hinter seinem Schreibtisch in seinem
Büro sitzen, eine Mattierung gegen das Glänzen aufgelegt
bekommen, mit Ausnahme des portablen Scheinwerfers und dem Kameramann
wäre alles wie immer. Die Journalistin würde im
Besuchersessel sitzen und ihm ihre Fragen stellen. Dann würde er
die vorbereitete Erklärung abgeben. Nachdem er seine
Morgentoilette beendet hatte, stellte er sich an das
Schlafzimmerfenster und sah auf den Garten seines Hauses hinunter. Er
war froh, so ein schönes Zuhause sein eigen zu nennen. Er
versuchte sich auf das kleine Frühstück mit seiner Frau zu
freuen, die er liebte und mit der er zwei Kinder im Alter von neun
und zwölf Jahren hatte. Sie besuchten ein gutes Internat. Seine
Augen streiften die Schaukel, die am untersten Ast der Kastanie
befestigt war, weiß und majestätisch in Blüte
stehend. Auf der Treppe zum Esszimmer hinunter fühlte er wieder
dieses Klemmen, das sich seit einigen Wochen von den Handgelenken
ausgehend bis zur Magengrube ausdehnte, wenn er daran dachte, aus
welchem Grund das Fernsehen heute kommen würde, aus welchem
Grund er gestern eine halbe Stunde mit einem Lokalreporter sprechen
musste, aus welchem Grund er in den letzten zwei Monaten fast täglich
mit den Vertretern des Betriebsrates verhandelt hatte. Sicher, er war
erleichtert, immer wieder feststellen zu können, wie gut er
vorbereitet war und dass die Argumentation der wirtschaftlichen
Zwangsläufigkeit die Sache zweifellos begründete; zwar
musste jeder Gesprächspartner binnen Kurzem einsehen, dass sie
nicht anders handeln konnten, aber die Begleitumstände, dieses
scheinbar dazugehörende Reden darüber, vor allem die vielen
Augenpaare, die dabei immer vorwurfsvoll oder bittstellerisch auf ihm
lagen, machten ihm zu schaffen. Er stellte sich auch heute morgen
wieder vor, alles mit formal korrekten Mitteilungen in die
entsprechende Ordnung bringen zu können. Er konnte ja
letztendlich nichts daran ändern, ob sie nun darüber
sprachen oder nicht, der Rahmen der Möglichkeiten war begrenzt
und sie würden tun, was möglich wäre, um unnötige
Härten zu vermeiden, an denen niemandem gelegen war, das wäre
ganz und gar überflüssig und nicht zweckorientiert.
„ Achte
darauf, Deine Hände ruhig zu halten, Schatz, das wirkt sonst
immer unseriös, wenn die Leute so fuchteln“, sagte seine
Frau, während sie ihm Kaffee einschenkte. „Du hast Recht,
Liebling, ich werde darauf acht geben“, antwortete er, ohne die
Augen von der vorbereiteten Erklärung zu lösen, sich noch
einmal einprägend, wann er Pausen setzen wollte. Es war wichtig,
nicht herzlos zu erscheinen. Er zog die Stirn über dem Nasenbein
in Falten, um seine persönliche Betroffenheit auszudrücken.
Nach
dem Frühstück ging er immer mit dem Hund spazieren, obwohl
er ja wusste, dass seine Frau dafür tagsüber ausreichend
Zeit haben würde. Für ihn stellte das den Luxus einer
privaten Erledigung dar, die noch vor den Pflichten der Arbeit einen
Platz in seinem Tagesablauf hatte. Obschon er heute etwas abgelenkt
war und der schlanke Windhundrüde dies zu spüren bekam,
wenn sein Herr ungeduldiger als sonst an der Leine riss, war er doch
froh, auch in schwierigeren Zeiten an liebgewonnenen Ritualen
festhalten zu können. Nachdem er das Tier in dessen eingezäunten
Bereich auf dem Grundstück entlassen hatte, die Leine an ihren
Platz gehangen und die Schuhe gewechselt, griff er nach
Aktenköfferchen, Mediaportabel und Autoschlüssel, um die
zwanzigminütige Fahrt zum Betriebsgelände anzutreten.
„ Du
wirst das schon machen“, küsste ihn seine Frau zum
Abschied, „Komm nicht zu spät, heute abend müssen wir
zum Konzert.“ Sie wandte sich wieder in Richtung Treppe zum
Schlafzimmer, sie würde noch etwas schlafen. Ich habe eine
Künstlerin gewollt und bekommen, dachte er, schloss die Haustür
und nahm entschiedenen Schrittes das Tagwerk auf.
Für
gewöhnlich genoss er die Fahrt vom Land in die Stadt, an den
Feldern vorbei die Alleen entlang, die in den Farben der Zeiten
leuchtend den Stand des Jahres anzeigten, heute hatte er keinen Blick
dafür. Auch den Nachrichtensender stellte er schnell aus, so
nüchtern er sonst selbst die Begriffe handhabte, heute lösten
sie etwas in ihm aus, dem er vor der Bekanntgabe nicht gewachsen war.
Es fühlte sich an, wie nach einem miserablen Essen in der
Betriebskantine, die er schon lange nicht mehr aufsuchte, oder
vielmehr, dachte er befremdet, wie bei einem Einstellungsgespräch.
Mit einem trockenen, tonlosen Lachen entledigte er sich dieses
Gedankens, nannte ihn pathetisch und obsolet. Verquer, nur nicht aus
der Spur bringen lassen, im Gegenteil, konnte er nicht verhindern zu
denken, im Gegenteil und schaltete das Radio wieder ein, entgegen
seiner Gewohnheit einen Unterhaltungssender einstellend.
Sobald
er in der Firma ankommt, setzt sich wie jeden Tag ein Mechanismus
unabänderlich in Gang: er verschafft sich einen Überblick
über eingegangene relevante Informationen, die ihm vorsortiert
vom Pförtner überreicht werden. Er sieht die Prüfroutine
durch, beobachtet Veränderungen, zieht Konsequenzen. Er stellt
den Aufwand dem zu erwartenden Ertrag entgegen und überprüft
die Parameter, die sie an die Prozesse anlegten. Er trifft
Entscheidungen. Da er die flachen Hierarchiewege des
Qualitätsmanagements angelegt hatte, besprach er die Ergebnisse
mit seinem Co, wie er ihn nannte, sie tauschten Entwicklungen und
Erwartungen aus und analysierten Abweichungen. All das wurde nur von
gelegentlich von seiner Assistentin durchgestellten Anrufen und den
kurzen Vorlagen von Dokumenten unterbrochen, ein Rhythmus, den er
mochte und auf dessen Einrichtung und Aufrechterhaltung er stolz war.
Er war gern Chef, dies war, weshalb er sich dazu eignete: moderne
Arbeitsabläufe, von keiner Eitelkeit behinderte gegenseitige
Kontrolle, Befriedigung aller durch Einsatz nach Befähigung.
Was
er heute zu verkünden hatte, würde dem Betrieb nicht
schaden. Schon der vorbereitende Schritt, vor zwei Jahren
vorausschauend durchgeführt, hin zu geringerer
Wochenarbeitszeit, war ihm logisch und klar erschienen, den
Bedürfnissen aller Seiten angepasst, der Erkenntnis folgend,
dass Freizeit ein zunehmend hoher Wert der heutigen Gesellschaft war,
wiewohl er bereits damals wusste, dass die Anpassung an den Markt die
jetzt greifende Umstrukturierungsmaßnahme irgendwann erfordern
würde.
Seine
Assistentin hatte das Kamerateam bestens versorgt. „Maske, er
kriegt noch ein bißchen Farbe dazu“, hörte er
jemanden entscheiden. Er war das Objekt. Das Auflegen der Schminke
erlebte er wie ein Unbeteiligter. Mit ihm hatte dies alles nichts zu
tun. Es musste getan werden. Diese Unterscheidung ist nötig.
Parallele Prozesse jenseits des Arbeitsprotokolls sind mögliche
Störfaktoren, dürfen den Blick auf die Notwendigkeiten
nicht verstellen. Die Aufnahmeleiterin, ein unauffälliges Ding,
klärte ihn noch mal über den Ablauf auf und erläuterte
noch einmal die Reihenfolge der Fragen. Sie wies ein weiteres Mal
darauf hin, er möge sich möglichst ungezwungen geben, bitte
nicht in die Kamera blicken und wenn er gar nicht einverstanden wäre,
könne man Teile wiederholen. „Sind wir dann soweit?“,
fragte sie und schaute in die Runde. Sie sah ihn zuletzt an. Er
nickte und dachte, Krankenschwester ist also doch nicht der einzige
Beruf, in dem notorisch in der zweiten Person gesprochen wird. Er
hörte ihre Frage nicht, deren Richtung, Rechtfertigung, ihm
bekannt war, sondern achtete nur darauf, seine Hände still zu
halten. Er stellte fest, dass sie nicht mehr sprach. „Wir haben
lange mit uns gerungen und uns die Entscheidung zu diesem Schritt
nicht leicht gemacht. Schließlich sind wir uns der gewachsenen
Verantwortung bewusst und wissen genau, was es für die Menschen
bedeutet, deshalb werden wir alles tun, den Übergang möglichst
sozialverträglich zu gestalten, schon aus höchstem Respekt
der für uns geleisteten Arbeit gegenüber. Es ist uns vor
allem von größter Wichtigkeit, dass wir das Gefüge
der Generationen im Auge behalten, uns also nicht der gesammelten
Erfahrung berauben, aber auch nicht der Chance auf Erneuerung durch
Verzicht auf Ausbildung und damit Zukunft. Dieser Schritt ist ohne
Alternative. Denn wenn es uns nicht gelingen sollte, mit der rasanten
Entwicklung schritt zu halten und den Veränderungen des Marktes
sogar einen Schritt voraus zu sein, gefährden wir die Existenz
des Standortes leichtfertig. Niemand trennt sich gerne von fast
tausend Mitarbeitern, die die Geschichte des Unternehmens mit geprägt
haben. Darum ist es uns auch nicht nur eine Verpflichtung, ihnen
einen großzügigen Abschied zu verschaffen, sondern eben
auch der Region gegenüber, den Zulieferbetrieben beispielsweise,
mit frischer Kraft, wenn auch schlanker nach vorne zu schauen.“
„ Was
wollen Sie denn den 950 entlassenen Mitarbeitern anbieten?“
„ Das
haben wir mit dem Betriebsrat ausgiebig verhandelt, und Details kann
ich Ihnen hier nicht nennen, aber Sie können davon ausgehen,
dass eine befriedigende Lösung gefunden wurde. Das sind nicht
bloß Geldzuwendungen, das geht bis hin zu unternehmerischer
Beratung und Unterstützung zur Gründung eigener Firmen,
denen das hier bei uns angesammelte Know-how zugute kommt und auch,
ähm, wieder wertschöpfendeingebracht werden kann.“
Er
hielt seine Hände ruhig, blickte die Fernsehjournalistin an und
wartete, ob sie noch etwas sagen würde. Mehr war nicht
verabredet, mehr hatte er nicht vorbereitet. Er fing an zu schwitzen.
Die Wärme und die Anstrengung, die nötig war, dem Fokus der
Aufmerksamkeit standzuhalten, hatte er sich vorher so nicht
vorgestellt. Dieses Medium erlaubte keine Fehler, das mochte er. Bei
diesem Gedanken straffte er sich, sie konnten ihm nichts anhaben.
„ Ich
danke Ihnen für das Gespräch.“
Bitte,
sagte er noch, und das schon etwas knapper, als er selbst für
höflich befunden hätte, aber kurz danach stellte jemand das
Licht ab und die Raumatmosphäre wurde spürbar entspannter.
Die Frau gab ihm die Hand, er bemerkte ihren Ausdruck nicht. Dann
beachtete ihn niemand mehr, was ihm nicht ungelegen kam. Obwohl dies
alles nur höchstens eine halbe Stunde gedauert haben konnte,
fühlte er sich ausgelaugt und erschöpft, als hätte er
bis in die späte Nacht gearbeitet. Nachdem die Medienvertreter
sich verabschiedet hatten, wies er seine Assistentin an, ihm nur die
dringlichsten Unterlagen zu reichen
und ließ seinem Partner eine Notiz zukommen, er würde
heute früh Feierabend machen. Als dies beschlossen war, kehrte
eine Leichtigkeit in ihn ein, deren wochenlanges Fehlen er erst jetzt
bemerkte.
Im
Waschraum spritzte er sich zur Erfrischung klares Wasser ins Gesicht.
Er sah, wie bräunliche Farbe ins Becken tropfte und wusch sich
gründlich, kontrollierte das Ergebnis im Spiegel. Er konnte mal
wieder etwas Sonne vertragen. Die Haut spannte. Seine Frau hatte
bestimmt eine Creme dafür. Fast euphorisch verließ er das
Gelände, summte die Lieder mit, die im Radio vom noch immer
eingestellten Unterhaltungssender gespielt wurden und befand, er sei
sehr einverstanden mit seiner Leistung. Er dachte daran, einen derart
kurzen Arbeitstag noch nie ohne Krankheitsgründe gehabt zu
haben. Er wusste nicht, was er mit soviel Zeit anfangen würde.
Er stutzte, als er dies bemerkte. Dann dachte er daran, dass seine
Frau zu Hause würde. Er schwitzte immer noch. Hoffentlich war
sie zu Hause. Ihm fiel auf, dass er kaum etwas davon wusste, womit
sie ihre Tage verbrachte. Genaugenommen hatten sie schon ewig keinen
ungeplanten Tag mehr miteinander verbracht. Zeit zu haben, war
wirklich ein Geschenk. Er freute sich auf einen schönen langen
Spaziergang mit dem Hund und morgen, dachte er, morgen geht es schon
wieder weiter.
Der Mittlere Held an seinen freien Tagen
I
Der Mittlere Held war auf der Suche nach Möglichkeiten der
Betätigung auf die Frage nach dem Sinn der Suche gestoßen
und dabei abgeschweift. Fortan schlief er lange, wachte schwer auf
und begann die Tage mit einem immer genauer werdenden
Frühstücksritual, zu dem zwingend Brötchen,
Croissants, Milchkaffee, ein Ei, Käse, Marmelade, Saft,
Radiomusik, eine Tageszeitung und die Zigarette hinterher gehören
mussten. Das Ei brachte ihn nicht zur Frage nach dem Ursprung der
Dinge und ob ihnen eine Zwangsläufigkeit zu eigen war, die
Zeitung führte ihn nicht zu Aufbegehr gegen erlesenes Unrecht,
mit der Zigarette im Mund sinnierte er, ob dem Leben der Drang nach
Vernichtung innewohnte, doch auch das ließ ihn sitzen bleiben,
bis der Hintern schmerzte. Erst das nahende Ende der einstudierten
Zeitabläufe trug eine Unruhe in sein Gemüt, die den
gewohnten Geschmäckern des Morgens einen weiteren zufügte.
Irgend
etwas musste Der Mittlere Held anfangen.
Das eine und das andere mal ging er, wenn es nur spät genug war, zu
seinem Briefkasten, um nachzusehen, ob dort zu bearbeitende Post
wartete. An den Tagen, an denen dies der Fall war, überließ
er sich dankbar der Durchsicht von Rechnungen,
Glücksspielverheißungen, Kiezmagazinen oder Aufforderungen
öffentlicher Stellen, administrativen Unabdingbarkeiten zu
folgen. War das getan, hatte Der Mittlere Held das Gefühl, ein
Tagwerk erledigt zu haben, das ihn wenn schon nicht befriedigte, so
doch wenigstens beruhigte. An manchen Tagen fand er sogar private
Post vor, was ihn freute, ins Leben zurückrief und zu einer
umgehenden Antwort inspirierte. Dann schrieb er Der Autonomen
Kindergärtnerin oder Dem Ländlichen Arbeitsamtsinspektor:
Gedanken zur allgemeinen Situation oder Repliken im Speziellen. Er
scherzte, spielte herunter oder sich auf, hielt den ironischen Ton,
legte eine Fotografie zu den besten Wünschen und Hoffnungen auf
ein baldiges Wiedersehen, adressierte, frankierte, tat einen Weg zum
Postamt und warf den Umschlag auf seine Reise. So begannen die
schwungvollen Tage im Leben Des Mittleren Helden, doch meistens war
der Kasten leer. Obzwar das Fehlen einer Tatsache von außen
erkennbar war, sah er immer hinein - eine hoffnungsverlängernde
und enttäuschungsaufschiebende Maßnahme.
Die
Notwendigkeit eines Entschlusses. Eigentlich stand ihm ein ganzes
Arsenal von sinnvollen Betätigungsfeldern zur Verfügung,
das wusste er und das wusste auch Die Empfindsame Fotografin, seine
beste Freundin, die ihn auch immer dann darauf hinwies, wenn er zu
leiden anfing ob der unbewegten Welt und seiner Ausgeschlossenheit.
Sie hielt ihm vor, was er alles tun könne und sogar müsse,
wolle er die gesteckten Ziele erreichen, von denen sie ihn reden
kannte. Sie hielt sie ihm vor seine eigene Nase wie die Landkarte
seiner Möglichkeiten, die sie nach seiner Skizze angefertigt
hatte, und er antwortete mit einem durch den Gaumen gepressten „ja“,
von schlechtem Gewissen durchsetzt, den Kopf dabei so gesenkt.
Was
hindert dich, fragte Die Empfindsame Fotografin. Und komm mir nicht
mit äußeren Umständen, das zählt nicht, die
kenne ich selbst.
Das
stimmte, das wusste er, die kannte sie, sie kämpfte sich
hindurch, zäh und oft elegant, gab nie auf, auch wenn ihr danach
war. Deshalb sah Der Mittlere Held sie auch manchmal so an, als wolle
er sich vorstellen... Aber das ist eine Geschichte, die hier noch
nicht erzählt werden soll.
Was
hindert mich denn nun, was hindert mich bloß, was hindert mich
also, fragt sich Der Mittlere Held, wohl wissend, dass es nichts
außer seiner selbst sein würde, nichts außer seiner
Wahrnehmung der Welt, in diesem Fall: Treppenhaus, Kindergeschrei aus
dem Parterre, das ihn immer weckte und der Sehnsucht, die immer da
war wie eine Schwingung, die man nur wahrnimmt, doch wenn man sich
darauf konzentriert, so wie man die Vögel hört, wenn sie
nach dem Winter wiederkehren.
Vielleicht ist die Frage nicht komplett, denkt er, es fehlt
das Woran, was hindert mich woran?
II
Auf einer Wiese in einem Park drängte sich Dem Mittleren Helden die
Frage auf, ob es eigentlich immer schon so gewesen sei oder schlimmer
würde. Die Antwort darauf machte es jedoch auch nicht besser.
Mit
seinem Kompagnon, Dem Begabten
Chaoten, traf er sich dort, um eine kleine runde Plastikscheibe hin
und her zu werfen. Zu dieser Zeit des endlich angefangenen Sommers
waren die beiden dort nicht allein. Um sie herum lagen, saßen
und bewegten sich Jogger, Federballspieler, Lesende und Liebende,
direkt neben ihnen drei Grillende, die nach etwa einer Viertelstunde
zu Fußballern wurden. Die Fläche wurde nun für die
unterschiedlichen Übungen in Motorik zu eng, Der Mittlere Held
und sein Kompagnon konnten nicht verhindern, dass die kleine
Plastikscheibe einmal nah am Kopf eines Fußballers vorbeiflog.
Der
Mittlere Held in seinem Vertrauen in die Möglichkeiten
gemeinsamer Lösungen versuchte, die Fußballer zu bitten,
auf die andere Seite ihres Lagers hinüberzuwechseln, wodurch
dann beide Gruppen viel mehr Platz haben würden. Die
Unfreundliche Horde ließ ihn jedoch gar nicht erst seinen
ersten Satz vollenden, sondern kauderwelschte sofort in ihrer, dem
eigenen Kulturkreis zugehörigen Sprechweise dazwischen, auf ihr
Recht pochend, was sich daraus ergeben sollte, dass sie schon vor Dem
Mittleren Helden und seinem Kompagnon auf der Wiese lagerten. Noch
einmal ging Der Mittlere Held davon aus, an einem Gespräch
gleichberechtigter Menschen teilzunehmen und versuchte, den vorher
bereits begonnenen Apell noch einmal anzubringen, worauf er wiederum
und noch nachdrücklicher unterbrochen wurde, wobei ihm physische
Gewalt angeboten wurde. Der Mittlere Held stand fassungslos und
betrachtete Die Unfreundliche Horde, als hätte er so etwas noch
nie erlebt. Er ahnte, dass sie Hinweise auf die Kürze ihrer
Argumentation oder ihre gesellschaftliche und kulturelle
Unentwickeltheit oder gar Dummheit wahrscheinlich nicht goutiert
hätten. Er blickte weiter hin und prägte sich dieses Bild
ein, als wäre es ein ungewohntes, sah sich dann wie von Weitem
auf Die Unfreundliche Horde blicken und musste dabei wohl lachen.
Daraufhin wurde ihm bedeutet, dass es so gut wäre, wenn er
freundlich zu diesem Unsinn lächelte. Er hörte auch
augenblicklich auf, denn es war ihm fremd, einen gönnerhaften
Ton auf sich bezogen zu hören, der einem Hund gebührte. Da
der Begabte Chaot sich aufmachte, die anscheinend für die Dauer
dieses Nachmittags verpachtete Wiese zu verlassen, schloss sich der
Mittlere Held an. Er brach auf, nicht ohne seinem Gefühl die
Frage anheimzugeben, wann es den Gleichmut aufgebracht haben würde,
nicht mehr an dringend anzurichtende Handfeuerwaffeninfernos und Amok
unter sich aufspielenden Männern zu glauben.
III
Der
Mittlere Held war im späten Winter an einem frühen Samstag
Abend mit seinem neuen Fußball zu einem kleinen Bolzplatz
gefahren, um ordentlich dagegen zu treten. Nachdem die beiden eine
Viertelstunde lang in Schneematsch und einsetzender Dunkelheit an
seiner Schusstechnik gefeilt, na, gehobelt hatten, kam ein kleiner
Hund auf den Spielplatz gewetzt, und störte die traute
Zweisamkeit verbissen wie ein guter Verteidiger. Der Mittlere Held
besah sich die Ballverliebtheit und vernahm schon von nicht allzu
weit die energischen Rufe Der Spaziergehenden Besitzerin: Aus! Kommst
du her! etc. Als sich ihre Befehlsgewalt gegen den freien Willen der
kleinen Gestalt durchgesetzt zu haben schien, setzte der Mittlere
Held seine Übungen fort, mit der Folge, dass der Hund zu ihm
zurück eilte und erneut die Kommandos der Spazierengehenden
Besitzerin erklangen. Dem Mittleren Helden, dem es etwas seltsam
erschien, dass zwei erwachsene Menschen, deren Wege sich durch zwei
kleine Spielzeuge kreuzten, nicht miteinander sprachen, während
sie die Spielzeuge zu trennen versuchten, sagte zum Abschluss
versöhnlich, dass der Hund wohl noch ganz jung wäre. Die
Spazierengehende Besitzerin nahm ihn im Dämmerlicht in so etwas
wie Augenschein und entgegnete, nein, der wäre ausgewachsen, der
hätte nur einen sehr, sehr großen Spieltrieb.
Ellipse
Du
dehnst die Zeit. Die Vögel besingen den grauenden Tag. Du raubst
der Nacht Bewusstsein. Sie wird böse, ungehalten zieht sie
davon. Es beschäftigt dich. Du fühlst deinen Puls, denkst
die Synkopen. Als der Mangel an Tageslicht noch keine Wirkung gezeigt
hat, warst du jünger. Wie ein warmer Ofen und Bücher dich
aufrecht halten können. Aber: Wenn die Stunden am Morgen dünn
werden, trügt dein vernunftgeleitetes Urteil. Die Wahrnehmung
nimmt sich deiner an wie ein Wirt, der von dir Umsatz erhofft - ganz
gleich, ob Du es Dir leisten kannst. Als stündest du noch. Als
sähest Du noch. Als sähest Du die Situation, ganz und gar,
unfähig, zu handeln. Als würden die unterdrückten
Träume im Wachen schon ihr Recht einfordern.
Stundenlang
stehst du an dir bekannten Orten, wissentlich, du wolltest etwas. Du
wolltest etwas, das dich herführte. Weißt nicht, was es
war. Die Stadt. Immer wieder die Stadt. Die Männer mit den
Mützen werden dafür bezahlt, die schönen Kulissen in
deiner Geschichte umherzuschieben. Wer erzählt sie inzwischen?
Sie schieben einen Raum herein. Wunderbar! Du betrachtest:
funktionsfertiges Getriebe deines Daseins, Kräfte deines
Wirkens, Begriffe, Gegenstände, Muster. Du weißt, wo du
bist. Du weißt nicht, wie du herkamst. Wer also herkam. Als
wärest du wissentlich tot. Du bestimmst nicht, wohin du treibst,
noch entscheidest du, wer sterben sollte.
Früher.
Es kann sein, dass ich Dinge tat, früher. Es kann sein, dass ich
Dinge tat an die ich mich nicht erinnere. Es mag möglich sein,
dass ich Dinge tun werde. Es kann durchaus möglich sein, dass
ich Dinge tun werde an, die ich mich nicht werde erinnern können.
Es kann als sicher gelten, dass ich später Dinge tun werde,
wissentlich. Später, mit Sicherheit.
Ich
sehe ein Bett in einem Krankenhaus, ich höre jemanden schreien.
Überall gelb. Ich rutsche an den Nervenbahnen in meinen
erschlaffenden Körper hinab. Wer ist das? Ansicht:
Nervenbahneninnenkörperumsicht.
Ist
mir jemand gefolgt und hat meine Schritte gelenkt, als ich mir zusah,
wie ich meine Zähne herausnahm, einzeln, um sie gegen
Erfahrungen zu tauschen? Sie haben mir ein Medikament dagegen
verabreicht, ich konnte es nicht mehr zerbeißen. Wir haben es
versucht, oder? Dann haben sie es vom Markt genommen. Mir
weggenommen, gegen Erfahrung, vernunftgeleitet.
Wir
hatten also recht. Vor dem Fenster haben sie die Statuen meiner
Wünsche aufgestellt. Meine halbwüchsigen Brüder tanzen
drumherum, singen mir die Namen meiner kleinen und großen
Knochen vor, das klingt sehr schön, sehr rein in seiner
Vielstimmigkeit. Auf der Straße stehen die Arbeiter an den
Debattiermaschinen, ihr Werk bleibt stetig frisch. Darin eingewickelt
die Vögel, die nicht mehr singen müssen.
Erhalte
eine Einladung zum Kongress: Eitelkeit. Übelkeit. Heiterkeit in
Geselligkeit. Dazu Meinungsfreiheit: hier wird grob geschlachtet. Im
Folgenden immer Doppelpunkt Ausrufungszeichen. Deutsche Wurst,
dänische Würstchen, französisches Brot, englischer
Senf. Da nicken die Rinder. Türsteher werden eingestellt,
hingestellt, überprüfen, lassen mich hinein, ich setze aus.
Arrogant. Herzlich. Abgeneigt. Ein Mann mit Bart und Brille setzt
sich dazu. Wir betrachten den Korridor, überall gelb,
Schalensitze, Türen, der Fußboden glänzt. Er besteht
darauf, ich müsse eine Nummer ziehen, die aber nie, niemals
aufgerufen werde. Hier gibt es keine sechseinsdrei. Nie, niemals. Wir
blicken in verschiedene Richtungen, aus denen niemand kommt. Er singt
ein spanisches Lied. Ich kann kein Spanisch.
Als
ich endlich einschlafe, schwappt die Demütigung über.
Solange ich noch denken kann, ich bin tot, bin ich nicht tot, aber es
könnte der letzte Gedanke gewesen sein, tot, aber ich wache auf,
weil ich nicht genug Luft bekommen habe. Die Schwester muss kommen.
Sie soll mir welche bringen.
Ich
fühle mich erfrischt. Die Angst liegt neben mir, sie sieht gut
aus bei Tageslicht, etwas mürrisch, abweisend, das steht ihr.
Sie redet mir gut zu. Ich bin froh, dass sie nicht singt. Wir bleiben
noch etwas. Schließ die Augen, damit ich dir die Rippen
auseinander biegen kann, so ist es recht. Wieder was gelernt. Das
werde ich aufschreiben, den Violinschlüssel voran und soviele
Wiederholungszeichen wie Blätter im Herbst. Gefallen. Gefunden.
Die
Satelliten. Wunderbar. Sie tragen Namen wie Ausgleich und
Einverständnis. Ich kann sie durch mein Teleskop
betrachten. Ich muss nur den Zwerg überreden, mich auch mal
hindurchsehen zu lassen. Er setzt sich die Kopfhörer auf und
diktiert mir, was er empfängt: „Die Revolution beginnt mit
dem Umsturz des Verhältnisses der Zwerge zu sich selbst,
Marmeladengläser werden nach Befüllung mit den gekochten
Früchten auf den Kopf gestellt, das Vakuum sammelt sich an der
Zimmerdecke.“ Er ist so schwer zu verstehen. Ich möchte
den Zwerg gern einmal Wachsen sehen. Groß. Großer Zwerg.
Ja, so ist es gut.
Zum
Frühstück werde ich das schwache Fleisch zerschneiden,
nachdem ich es beschimpft habe, bis es gar ist. Ich kaufe mir einen
Apfel und werde ihn Wirklichkeit taufen, bevor er ausgestellt
wird.
Man
hat mich zum Saubermachen abberufen, aber ich werde mich vor dem
Sauger hüten, bei ihm weiß man nie, an wessen Ende man
sich befindet. Der Feudel ist mir angenehm, nass und langsam, sein
Psalm ist einfach auswendig zu lernen: „Wir lieben dich nicht
mehr. Wir hoffen nicht mehr auf dich. Wir lassen uns den Glauben an
dich nicht nehmen.“ Ich trage das Kostüm mit dem Vogel auf
der Brust, unschuldig, mein Juwel. Der Feudel stellt mir seine Frage,
wenn alles blitzt und glänzt: „Welches Wort hast Du heute
zum letzten Mal in Deinem Leben gehört?“ Ich reibe die
Hände und sage: „Bruderschaft“. Er schüttelt
den Kopf und ich sage: „Verantwortung“, aber er hört
gar nicht mehr zu. Ich - Ich bin bestimmt – Ich bin bestimmt
mehr als meine gesammelten Sünden. Die Schwester soll kommen,
sie soll auf meiner Stirn lesen.
Nun,
bitte schön, Erdgeschoss: Weltraumforschung. Dazu pfeife ich mit
den unteren Bereichen. So gut ich kann. Ich halte den Takt. Ich liebe
dich nicht. Ich hoffe nicht auf dich. Ich lasse mir den Glauben an
dich nicht nehmen. Er sieht mich gespannt an, aber er fragt mich
nicht, was jetzt noch helfen könnte.
Sie
wird dünn, bis sie fast reißt. Dann hört die Zeit
auf.